Was mutet die Lehre vom Sensus fidelium den Laien und der Hierarchie zu? Wozu verpflichtet das allgemeine Priestertum der Gläubigen? In welchem Verhältnis steht es zum Lehramt in der Kirche? Was bedeuten Prophetie und Charisma in diesem Kontext? Wo wurde das Wirken des Geistes in der Geschichte der Kirche auf ansteckende Weise aufgespürt?
Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte Universität Luzern
- Kirchliche Lehre findet nur dort statt, wo auch gelernt wird.
- Lehr- und Lernprozesse erschliessen sich erst sekundär anhand der theologischen Struktur des Volkes Gottes – für das Verständnis steht die soziale Struktur deutlich im Vordergrund.
- Sowohl Dynamiken als auch Behinderungen können von beiden Seiten ausgehen: von der Seite der Lehrenden wie auch von der Seite der Lernenden.
Eva Südbeck-Baur, Caritas Zürich, Theologin, Managerin für Non-Profit-Organisationen
- Von, über und mit Gott zu sprechen, ist unnormal [nach Einschätzung ‚Normaler‘]. Alle, die es tun, sind unnormal. Kritische Katholikinnen sind doppelt unnormal. Die katholische Kirche hat nichts gesellschaftlich Relevantes zu sagen.
- Ethischer Glaubenssinn besteht individuell und in Form von in der Gesellschaft verankerten Werten. Die theologischen Wurzeln der Werte zu erschliessen, stärkt den ethischen und nährt den spirituellen Glaubenssinn.
- Das Glaubenswissen und die Sprache über die eigene Religion erodieren zunehmend. Glaubenswissen wird kollektiv über die Medien erworben, Glaubenssinn individuell durch die Höhen und Tiefen des Lebens, Gottes Gegenwart in uns und durch die Natur.
- Spiritueller Glaubenssinn der Getauften braucht Hörende. Die Aufgabe der Theologinnen ist es, dem spirituellen Glaubenssinn der Getauften Gehör zu schenken und ihm Gehör zu verschaffen.
Medienmitteilung: Der Glaubenssinn der Getauften – die andere Seite des Lehramts
Paul Jeannerat / Kipa Luzern, 9.2.10
Die Kirche ist eine Lerngemeinschaft. Ihr Glaubenssinn entfaltet sich im gegenseitigen Hören: der Laien auf die Inhaber des Lehramtes, der Lehrenden auf die Gesamtheit der Gläubigen – und aller Getauften auf jene, die am Rand oder ausserhalb der Kirche wesentliche Glaubensvollzüge verwirklichen. In diesem Rahmen haben Laien eine eigene Autorität in der Überlieferung des Glaubens. Sie nehmen so am prophetischen Amt Christi teil. Das ist das Fazit der dritten Veranstaltung in der Reihe Katholische Dialoge, die vom Forum für offene Katholizität (FOK), vom Verein Tagsatzung im Bistum Basel und vom RomeroHaus Luzern verantwortet werden.
Der erste Dialog vom 19. Oktober 2009 war von der These ausgegangen, dass das Gottesbild eingreifende Folgen für die erfahrbare Gestalt der Kirche hat. „Ohne Wandel im Gottesbild keine Kirchenreform!“ Der zweite Dialog vom 23. November 2009 verstand sich als Austausch über die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte einer Welt, die seine Welt sein soll.
Die dritte Veranstaltung vom 8. Februar ging nun der Frage nach, was die oft unterdrückte Lehre vom Glaubenssinn oder Glaubensgespür der Getauften (sensus fidelium) bedeutet. Was mutet sie den Laien selbst wie auch der Hierarchie zu? Wozu verpflichtet das allgemeine Priestertum der Gläubigen? In welchem Verhältnis steht es zum Lehramt in der Kirche? Was bedeuten Prophetie und Charisma in diesem Kontext? Wo wurde das Wirken des Geistes in der Geschichte der Kirche auf ansteckende Weise aufgespürt?
Impulsgeber waren wiederum zwei Fachleute: Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern, und Eva Südbeck-Baur, Leiterin der Abteilung Diakonieförderung der Caritas Zürich.
Das Volk Gottes als Trägerin des Glaubens
Markus Ries zitierte als Grundvoraussetzung aus der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach die Gesamtheit der Gläubigen Trägerin und Vermittlerin des Glaubensgutes ist: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann in ihrem Glauben nicht irren“ (Lumen gentium 12). An Beispielen aus der Kirchengeschichte (Verbreitung der Herz Jesu-Frömmigkeit im 19. Jahrhundert, Reduktion von kirchlichen Feiertagen im 18. Jahrhundert, Streit über das Fresko von Ferdinand Gehr in Oberwil ZG im 20. Jahrhundert) skizzierte er, wie kirchliche Lehre nur dort stattfindet, wo auch gelernt wird und wie Lerndynamik wie auch Lernbehinderung von beiden Seiten ausgehen kann: von der Seite der Lehrenden wie auch von der Seite der Lernenden.
Das Lehramt als Animator des kirchlichen Kommunikationsprozesses
Eva Südbeck-Baur wies darauf hin, wie sehr Glaubenssinn auch bei Menschen zu entdecken ist, die am Rande oder ausserhalb der Kirche sich für evangeliumsgemässe Anliegen (Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung usw.) einsetzen. Von ihnen haben die Gläubigen zu lernen, um den eigenen Glauben zu vertiefen. Dabei unterschied sie zwischen dem Glaubenswissen (zum Beispiel: Biblische Kenntnisse), das gelernt werden muss, und dem Glaubenssinn, der individuell durch die Höhen und Tiefen des Lebens, Gottes Gegenwart in uns und durch die Natur erworben wird. Die Aufgabe der Theologinnen sieht sie darin, dem spirituellen Glaubenssinn der Getauften Gehör zu schenken und ihm Gehör zu verschaffen. Der kirchlichen Leitung schreibt sie die Funktion der Animation und kritischen Begleitung des Kommunikationsprozesses in der Kirche zu.
Die Anstösse der Referenten und das nachfolgende Gespräch (unter Leitung von Erwin Koller) wurden von einigen der etwa 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern als aufbauend, anstossend, zukunftweisend qualifiziert. Der Leiter des RomeroHauses, Toni Bernet-Strahm, erinnerte abschliessend an Erzbischof Oscar Arnulfo Romero, der vor 30 Jahren am Altar ermordet wurde, und stellte ihn als Priester dar, der von den unterdrückten Indios gelernt hat, von ihnen bekehrt und so zum Verteidiger der evangelischen Option für die Armen wurde.