Die Kirche steckt mit ihrer hergebrachten Sexualmoral in der Krise. Der Katholische Dialog stellt sich den Skandalen des sexuellen Missbrauchs in der Kirche und spitzt das Thema zu auf die Fragen: In welchem Verhältnis stehen die Skandale zur Macht und zur Mündigkeit in der Kirche? Erlässt sie zu viele Verbote und gibt zu wenig Hilfe? Fördert sie eine Haltung der Abwehr und Unterdrückung statt einer Kultur der Entfaltung und Eigenverantwortung? Genügt es, Mitleid mit den Opfern zu beteuern, ohne auf die zu schauen, die sie zu Opfern gemacht hat? Reicht die Abscheu vor den Tätern, ohne danach zu fragen, inwieweit kirchliche Strukturen diese Missbrauchspraxis ermöglicht und gefördert haben und deshalb heute verändert werden müssen?
Markus Zimmermann-Acklin, Dr. theol., Moraltheologe an der Universität Freiburg/CH
Beobachtungen aus theologisch-ethischer Sicht
1 Opfer sollen im Zentrum stehen.
Im Zentrum sollten die Menschen stehen, denen Unrecht angetan wurde bzw. in Zukunft angetan wird. Ihre Not, ihre Verletzungen, ihre gestörte oder auch zerstörte Entwicklung zu reifen Menschen ist das Problem aller Kirchenmitglieder. Die in der Priesterausbildung Verantwortlichen müssen sich daher auf ernsthafte Weise mit der Pädophilie und der psychosexuellen Entwicklung von Menschen auseinandersetzen und sind dafür auch auf die Forschung in der theologischen Ethik angewiesen.
2 Machtkontrolle und Gewaltenteilung gelten auch für die katholische Kirche.
Die katholische Kirche ist kein Staat im Staat. Staatliche Macht ist als solche anzuerkennen und mitzugestalten. Insofern Macht in der eigenen Institution ausgeübt wird, sind Transparenz, Kontrolle, Professionalität einerseits und eine interne Gewaltenteilung andererseits unabdingbare Bestandteile einer glaubwürdigen Institution.
3 Der Umgang mit Macht bleibt für alle Seelsorgenden eine Herausforderung.
Obgleich die ehemalige Pastoralmacht der Kirche weitgehend verschwunden ist, bleibt der Umgang mit Macht eine Herausforderung sowohl für die Institution Kirche als auch für die Seelsorgerinnen und Seelsorger. Machen wir Menschen abhängig? Wissen wir, was für sie gut ist?
Marie-Theres Beeler, Theologin und Supervisorin
Sie ist Ansprechperson für Opfer sexueller Ausbeutung in der Seelsorge im Bistum Basel.
Welche Handlungsoptionen ergeben sich aus der Situation der Opfer?
1 Sexuelle Ausbeutung muss als Machtmissbrauch anerkannt und verhindert werden.
Sexuelle Ausbeutung ist in erster Linie Machtmissbrauch. Abhängigkeit wird ausgenützt und zum Teil aufgebaut, um persönliche Bedürfnisse zu befriedigen. Jede Form sexueller Ausbeutung muss als Machtmissbrauch anerkannt und verhindert werden.
2 Tabuisierung von Sexualität hindert die Opfer, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Die Tabuisierung und Dämonisierung von Sexualität in der Kirche bewirkt, dass viele Opfer sich nicht in der Lage sehen oder sahen, über ihre Erfahrungen zu sprechen und die Täter damit zu konfrontieren. Täter, die dank ihrem Amt in der Öffentlichkeit eine grosse Akzeptanz geniessen, sind für die Opfer eine hohe Schwelle, sich auszusprechen.
3 Die Verurteilung der Täter entlastet und macht den Weg frei für eine Heilung.
Opfer sexueller Ausbeutung haben grosse Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Für das Unrecht, das sie erlitten haben, gibt es in der Regel keine Zeugen. Wenn sie ihre Erfahrungen mitteilen, laufen sie Gefahr, ein zweites Mal Opfer zu werden. Erfolglose Strafanzeigen traumatisieren erneut. Verurteilungen dagegen führen zu psychischer Entlastung. Wiedergutmachung ist als Schritt zur Verarbeitung und Heilung von grosser Bedeutung.
Medienmitteilung: Sexuelle Ausbeutung verhindern durch professionellen Umgang mit Menschen – Von Paul Jeannerat / 31. Mai 2010 (KIPA)
„Die grösste Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äusseren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche“, sagte Papst Benedikt VI. (KIPA 12. 05. 2010). Um welche Sünde handelt es sich: um gravierende Fehltritte einzelner kirchlicher Mitarbeiter oder vielmehr um strukturelle Sünde, die in der hergebrachten kirchlichen Sexualmoral und im kirchlichen Umgang mit Macht begründet ist?
Dieser Frage stellte sich der fünfte „Katholische Dialog“, den das Forum für offene Katholizität (FOK), der Verein Tagsatzung im Bistum Basel und das RomeroHaus Luzern am 31. Mai 2010 gemeinsam veranstalteten. Fazit der Überlegungen: Kirchliche Strukturen und unterdrückerische Sexualmoral haben viele Menschen zu Opfern gemacht und die jüngst aufgedeckten sexuellen Übergriffe ermöglicht. Sie müssen dringend verändert werden.
Markus Zimmermann-Acklin, Lehr-und Forschungsrat am Departement für Moraltheologie und Ethik der Universität Freiburg/CH hob hervor, dass die Verletzungen und die Not der Menschen, denen Unrecht geschehen ist, das Problem aller Kirchenmitglieder ist. Die Krise zeigt auf, dass die Kirche menschlich und fehlbar ist: „Das Bild einer Kirche der Gerechten ist mehr als fraglich“. Darum darf die Kirche zu gemachten Fehlern stehen, muss aber auch die nötigen Veränderungen vornehmen, ihre Strukturen verbessern und zum Beispiel die legislative, die exekutive und die iudikative Gewalt institutionell einführen. Eine besondere Verantwortung liegt bei der Forschung in der theologischen Ethik, die grosse Anstrengungen machen muss, um die kirchliche Sexualmoral im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen zeitgemäss zu definieren. Die für die Ausbildung von kirchlichen Mitarbeitern Verantwortlichen müssen mit der psychosexuellen Entwicklung von Menschen vertraut sein.
Marie-Theres Beeler, Ansprechperson für Opfer sexueller Ausbeutung in der Seelsorge im Bistum Basel, betonte die Unabhängigkeit ihres Dienstes: Als Theologin und freie Unternehmensberaterin steht sie den Opfern mit Rat und Tat zur Verfügung, hat wo nötig direkten Zugang zu den Personalverantwortlichen des Bistums, ist aber von der kirchlichen Leitung unabhängig. Sie definiert sexuelle Ausbeutung als Verletzung sozialer Einflussbeziehungen, Machtmissbrauch und Ausnützung von Abhängigkeit. Aus ihrer Erfahrung verlangt sie darum nicht nur grösste Sorgfalt bei Auswahl und psychosozialer Ausbildung der kirchlichen Dienstträger, sondern deren kontinuierliche Weiterbildung im Gebrauch seelsorgerlicher Macht: „Professionalität im Umgang mit Menschen ist unabdingbar.“