In den letzten 50 Jahren fanden zwei Phasen der beschleunigten Ablösung vom kirchlichen Leben statt: die erste zwischen 1965 und 1975, die zweite seit den 90er Jahren. Dies hat der Theologe, Soziologe und Pastoralsoziologe Karl Gabriel beobachtet.
Die Jugendlichen vertreten eine Minimum-Religion; sie wird gesellschaftlich toleriert und ist seit den 90er Jahren an die Stelle der konfessionellen Religiosität getreten. Diese zweite Beobachtung stammt vom Theologen und Sozialwissenschaftler Dominik Schenker, Mitverfasser des Buches «Ansichten vom Göttlichen. 22 Jugendliche» (Salis-Verlag Zürich 2009).
Nach seiner Beobachtung umfasst diese Minimum-Religion den Glauben an eine undefinierbare höhere Macht ohne Dogmen und Bekenntnisse. Sie gibt Halt im Alltag – ohne Verzicht auf Konsum oder Veränderung des Lebensstils. Sie deutet das Unvorhersagbare. Das gilt als normal.
Aber religiöse Einstellungen, die dieses Minimum überschreiten, fallen unter Begründungszwang. Jeder darf etwa sagen, dass er in der Kirche eine Kerze anzünde – als Ritual. Das ist gesellschaftlich akzeptiert. Sobald es mehr ist als ein Ritual, muss man es begründen und man wird schnell in die Sektiererecke geschoben. Schenker: «Man kann agnostisch, katholisch, reformiert, neuheidnisch, buddhistisch oder sonst was sein, wenn man nur nicht zu überzeugt ist.»
Inzwischen erschienen weitere Studien, vorab im Rahmen des NFP-58 «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft». Zu nennen ist auch der zweite Credit Suisse Jugendbarometer 2011.
Der Katholische Dialog stellt die Aussagen der Studien in den grösseren Zusammenhang: Was ist überhaupt Religion? Was ist Religiosität? Wie sind solche Umfrageergebnisse aus der Sicht des Religionswissenschaftlers zu beurteilen? Welche neuen Chancen bietet die Jugend-Religiosität den Kirchen? Was sagt die kirchliche Jugendarbeiterin dazu?
Anastas Odermatt, Religionswissenschaftler B.A., Luzern
Hinweise aus der Sicht der Religionswissenschaft
- Der öffentliche Diskurs ist noch immer geprägt von der Kirchensoziologie der 70er-Jahre: Religion wird assoziiert mit Kirchlichkeit und Gottesdienstbesuch. Man verhandelt sie vorwiegend auf einer institutionellen Ebene und bringt sie zur Sprache, wenn es um ‚schlechte‘ Handlungen aufgrund vermeintlich religiöser Motivation geht, oder wenn es um den ‚Niedergang der Religion‘ geht. Die Säkularisierung wird blindlings vorausgesetzt.
- Nach neueren Studien im Rahmen Nationaler Forschungsprogramme weisen Jugendliche eine ‚moderate Religiosität‘ auf, sie sind mehrheitlich nicht ‚unreligiös‘, aber auch nicht ‚hoch-religiös‘ (NFP 58). Jugendliche sind offen und tolerant, wobei religiöse Jugendliche gegenüber Menschen anderer Religionen toleranter sind als nicht-religiöse. Sie zeichnen sich heute grossenteils durch ein starkes Mitgefühl und ein hohes Verantwortungsbewusstsein aus (NFP 52).
- In einer pluralisierten Religionslandschaft stehen alle vor der ‚Qual der Wahl‘. Diese Wahl ist eine Herausforderung für die Jugendlichen. Die Institution Kirche ist für sie hinsichtlich ethischer, religiöser und weltanschaulicher Fragen keine Ordnung gebende Instanz. Diese ‚Wahl‘ ist aber auch eine Herausforderung für Anbieter sinnstiftender, Ordnung gebender ‚Produkte‘.
Viktor Diethelm Schwingruber, Co-Stellenleiter Fachstelle für kirchliche Jugendarbeit LU
- Das oft monolithische Selbstverständnis von Pfarreigemeinschaften hemmt die Integration Jugendlicher. Dass sie anders denken dürfen als die ‚Herde von Schafen‘, wollen sie nicht glauben. Sie erleben es auch nicht als Vorteil, zu einer Bekenntnisgemeinschaft zu gehören. Freundeskreis ja, katholisches Milieu nein!
- Jugendliche haben eine Beziehung zur Transzendenz, das zeigt das Buch „Ansichten vom Göttlichen. 22 Jugendliche“ von Oliver Demont und Dominik Schenker (Zürich 2009). „Diese Beziehung ist für mich wichtig, weil sie meine Lebensrealität aufnimmt und für mein Leben etwas bringt.“ Je weniger die Jugendlichen jedoch kirchlich sozialisiert sind, desto sprachloser sind sie in Bezug auf Glaubensfragen. Trotzdem überrascht die Tiefe ihrer individuellen Glaubensvorstellungen. Es ist kein dogmatischer, sondern ein dynamischer Glaube. Religion ist eine Angelegenheit, die einen betrifft; sie muss nicht cool daher kommen, sondern Tiefe zulassen.
- Für Jugendliche attraktiv sind Seelsorgerinnen, die mystagogisch [in Geheimnisse einführend] zu einem individuellem Glauben hinführen (Karl Rahner), ohne autoritär Glaubensformeln anzupreisen. Gefragt sind also ‚Glaubenscoachs‘, welche die persönliche Glaubensentwicklung unterstützen, eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, als Dialogpartner authentisch sind, nachvollziehbare Begründungen anbieten und Einblicke geben in den Umgang mit Widersprüchen und Ungewissheiten.
Medienmitteilung: Gefragt sind Glaubenscoaches
Von Paul Jeannerat / Luzern, 2.12.11 (Kipa)
In der pluralistischen Religionslandschaft der Gegenwart stehen besonders die Jugendlichen vor der Qual der Wahl. Die Institution Kirche ist nur noch eine von mehreren Instanzen, die Orientierung geben können. Die kirchliche Jugendarbeit und die Pfarrgemeinden sind deshalb herausgefordert, aufsuchend tätig zu sein. Gefragt sind Glaubenscoaches. Das ging dieser Tage aus einer Veranstaltung des Forums für offene Katholizität im RomeroHaus in Luzern hervor.
Am 12. Katholischen Dialog, durchgeführt vom Forum für offene Katholizität und vom Verein tagsatzung.ch, standen die jungen Erwachsenen von heute und deren Religiosität im Focus: „Wie cool ist Religion?“
Mehrere Untersuchungen beschäftigten sich in jüngster Zeit mit der Religiosität der heutigen Jugend: eine im Rahmen des Neuen Forschungsprogramms „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP-58), eine andere im so genannten Jugendbarometer der Credit Suisse (2011). Dazu kommt das Buch von Oliver Demont und Dominik Schenker „Ansichten vom Göttlichen“ (Zürich 2009) mit Zeugnissen von 22 Jugendlichen. Grund genug für das Forum für offene Katholizität, nach der Meinung der Religionswissenschaft und nach der Praxis katholischer Jugendarbeit zu fragen.
Studien geben nur oberflächlich Antwort
Anastas Odermatt, Religionswissenschaftler und Verbandsleiter von Jungwacht Blauring Schweiz, zeigte auf, wie viele statistische Studien nur oberflächliche Antworten auf die Frage nach der Religiosität geben. Religiosität wird oft fälschlicherweise gleichgesetzt mit Gottesdienstbesuch und Kirchlichkeit. Fragen nach Gott müssen mit Ja oder Nein beantwortet werden, ohne dass Nuancen, Zweifel oder Zögern berücksichtigt werden – und daraus wird fälschlicherweise gefolgert, wer als Atheist unreligiös oder als Theist religiös gilt.
Diese Methode führt dazu, dass nur noch Eifrige als religiös empfunden, im Glauben Suchende und Strebende hingegen als unreligiös abgestempelt werden. Wenn den Jugendlichen von heute eine moderate Religiosität attestiert wird, sind diese nicht unreligiös. Es muss aber geklärt werden, wie und wo sich diese Religiosität ausdrückt.
Aufsuchend und selbstlos
Viktor Diethelm Schwinguber von der Luzerner Fachstelle für kirchliche Jugendarbeit beschrieb seine Tätigkeit als aufsuchend und selbstlos: „Wir gehen dorthin, wo Jugendliche ihre freie Zeit verbringen, und versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.“ Dabei bleibt die Auftrag gebende Institution, die Kirche, im Hintergrund, denn die Jugendlichen erleben es nicht als Vorteil, zu einer Bekenntnisgemeinschaft zu gehören.
Attraktiv für Jugendliche sind Seelsorger und Seelsorgerinnen, „die mystagogisch zu einem persönlichen Glauben hinführen, ohne autoritäre Glaubensformeln anzupreisen“. Gefragt sind also Glaubenscoaches, welche die persönliche Glaubensentwicklung unterstützen. Es kann nicht darum gehen, einen unhinterfragbaren Gott verkündigen, sondern darum, aus persönlicher Spiritualität heraus im Dialog authentisch zu sein und auch Einblicke zu geben in den eigenen Umgang mit Widersprüchen und Ungewissheiten. Für die Jugendlichen ist Religion eine Angelegenheit, die betrifft oder kalt lässt, sie muss aber nicht cool daher kommen, sondern Tiefe zulassen.
Toleranter gegenüber Andersreligiösen
In der Diskussion unter Leitung von Erwin Koller und Toni Bernet wurde diese Form kirchlicher Jugendarbeit intensiv besprochen. Obwohl sie nicht primär darauf ausgeht, die Jugendlichen in die Kirche zu integrieren, sondern sie in selbstloser Weise zu einem persönlichen Glauben führen will, bedarf die Jugendarbeit überzeugter Förderung und auch finanzieller Unterstützung durch die kirchlichen Verantwortungsträger.
Ferner wurde ein Satz aus den von Anastas Odermatt vorgelegten Thesen diskutiert: „Religiöse Jugendliche sind gegenüber Menschen anderer Religionen toleranter als nicht-religiöse“. Diese Feststellung empirischer Untersuchungen widerspricht einem gängigen Vorurteil und verdient es, hervorgehoben zu werden.