Welchen Platz hat die Sozialarbeit nebst Verkündigung und Gottesdienst?
Nach einer alten Formel sind Martyría, Leiturgía und Diakonía (Zeugnis, Liturgie und Dienst) – im Einklang mit Glaube, Hoffnung und Liebe – die wesensnotwendigen Grundvollzüge der Kirche. Doch Hand aufs Herz: Gelten nicht doch Predigt und Kult der Geweihten viel mehr als der unscheinbare Dienst der Sozialarbeiterinnen und Freiwilligen an Armen und Benachteiligten, auch mehr als die grossen Leistungen kirchlicher Hilfswerke? Stehen nicht die heilsnotwendigen Sakramente und die Verkündigung des wahren Glaubens und der richtigen Moral im Zeichen knapperer Mittel erst recht im Zentrum?
Vor 50 Jahren hat das 2. Vatikanische Konzil im Selbstverständnis der Kirche eine kopernikanische Wende eingeleitet, die entweder ignoriert oder von Traditionalisten bekämpft, kaum aber zur Entfaltung gebracht wurde. Bisher hat sich die Kirche vor allem an die eigenen Gläubigen gerichtet. Neu ist sie für alle Menschen da. Nicht, um alle katholisch zu machen, sondern um ihnen Hoffnung, Vertrauen und ein gerechteres Zusammenleben zu ermöglichen und „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (Gaudium et Spes 1) mit ihnen zu teilen.
Heute stellt sich allerdings die Frage, ob die Kirche, so wie sie strukturiert ist, diese Aufgabe erfüllen kann. Ist sie wirklich „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium 1)? Wie engagiert sie sich wirksam für Frieden, Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit der Lebensvollzüge auf Erden? Was unternimmt sie für „Arme und Bedrängte aller Art“? Wie kann soziales Handeln in Bistümern und Pfarreien umgesetzt werden? Müssten kirchliche NGOs und Hilfswerke als Werkzeuge theologisch nicht aufgewertet werden? Hat Praxis nicht Vorrang vor aller Feier und Predigt, wenn nach Jesus das Reich Gottes bereits unter uns wirksam ist? Müsste sich die Kirche nicht mehr an den Zeichen der Zeit als an Sätzen der Vergangenheit orientieren? – Diesen Fragen stellen sich zwei Referenten mit kurzen Thesen, Impulsen und Gesprächsbeiträgen.
Florian Flohr, Theologe und Kommunikationsverantwortlicher, kath. Kirche Luzern
- Das ‚Kerngeschäft‘ des Christseins wird zutreffend mit dem Dreiklang der Basler Versammlung umschrieben: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Das sind die Früchte, an denen Christinnen und Christen wesentlich zu erkennen sind – ohne damit Exklusivität anzustreben.
- ‚Geschäftsinhaberinnen‘ sind nicht zuerst die Vertreterinnen und Vertreter der Institution Kirche bzw. deren Angestellte, sondern alle Christinnen und Christen. Das ‚Geschäftsmodell‘ besteht primär nicht in kirchlichen Aktivitäten, sondern in der Alltagspraxis der Christinnen und Christen in Beruf, Politik, Familie, Freizeit, sozialem und kulturellem Engagement…
- Die – gesellschaftlich sinnvolle und notwendige – Einladung zur Freiwilligenarbeit ist in diesem Sinne nicht kirchlich-institutionell zu verzwecken, sondern zu öffnen. Die verschiedensten Einsatzfelder für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Zivilgesellschaft sind christlichem Verhalten in ‚nicht-freiwilliger‘ Arbeit (Beruf, Familie, Staat) gleichzustellen.
Fridolin Wyss, Leiter Gassenarbeit Luzern
Mitautor von „Verwundete Engel – Begegnungen mit Menschen am Rand“ (Luzern 2010)
- Die Kirche, auch die Kirche Europas, hat ihren ursprünglichen Ort bei den Armen und gehört dem Stand der Armen an. Die Armen haben in der Schweiz verschiedene Gesichter: Das Gesicht der Ausgegrenzten, Vereinsamten, Kranken, Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfangenden und Gassenleute… Im Leben, Leiden und Lieben mit diesen Armen ereignet sich Reich Gottes. Ohne diese Solidarität nicht für, sondern mit den Armen kann Reich Gottes nicht sein.
- Diese Verortung führt auch zum heiligen Zorn gegen jene, die primär den Wohl-Stand der vermeintlich Wohl-Anständigen hüten und vermehren. Eine diakonische Kirche engagiert sich in Wort und Tat mit den Armen für ihre Anliegen und setzt sich so der Kritik der Wohlstandshüter und Wohlstandsvermehrer aus. Kirchleute, die bei dieser politischen Diakonie zurückkrebsen und den Mut verlieren, weil sie das Anständigsein höher gewichten, haben nach P. Espinal SJ nicht das Recht, von Gott zu reden.
- Wie die Feier von Sakrament und Wort öffentliche Akte sind, muss auch der Liebesdienst ein öffentlicher Akt sein und darf nicht ins private Engagement abgedrängt werden. Dies muss sich in öffentlich aktiven Institutionen für Liebesdienste manifestieren: Caritas, Fastenopfer, Gassenarbeit, Pfarreisozialdienst… Von der Kirche initiierte soziale Institutionen sollen darum kirchlich bleiben und nicht in ‚neutrale‘ Hände gelegt werden.
Medienmitteilung: Katholischer Dialog über die Hilfe der Kirche für die Armen
Luzern, 13.3.12 (Kipa)
Wie engagiert sich die Kirche wirksam für „die Armen und Bedrängten aller Art“? Darüber diskutierten am Montag 30 Teilnehmende und Fachleute am 14. Katholischen Dialog im RomeroHaus Luzern, wie die Veranstalter am Dienstag mitteilten. Der Katholische Dialog ist eine Veranstaltung des Forums für offene Katholizität (FOK) mit dem Verein tagsatzung.ch und dem RomeroHaus Luzern.
Florian Flohr, Kommunikationsverantwortlicher der katholischen Kirche Luzern, bezeichnete in seinen Thesen den Dreiklang „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ als das „Kerngeschäft“ des Christseins. Er betonte, die letzte Frage des Weltenrichters werde nicht jene nach dem richtigen Glauben sein, sondern jene nach dem Engagement für die Benachteiligten (Matthäus 25).
Fridolin Wyss, Leiter Gassenarbeit Luzern, hob hervor, dass die Zielgruppen Jesu die damals sozial Ausgegrenzten waren (besonders im Markus-Evangelium) und dass darum die Kirche ihren Ort bei den Armen hat. Laut Wyss braucht es Institutionen, die „die soziale und die politische Diakonie der Kirche öffentlich manifestieren: pfarreilicher Sozialdienst mit ausgebildetem Personal, kirchliche Gassenarbeit, katholisches Hilfswerk Fastenopfer, ökumenischer Verein Sans Papiers“.
Wie Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils umsetzen?
Das Forum für offene Katholizität (FOK) beschäftigt sich mit der übergeordneten Frage: Wie sollen zukunftsgerichtete Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) in Theologie, kirchlicher Verfassung und Seelsorge aufgenommen und umgesetzt werden? Es richtet sich mit den Katholischen Dialogen an Personen, die in Seelsorge und Religionsunterricht, in theologischer Forschung und Lehre sowie in spiritueller Begleitung und religiöser Weiterbildung wirken.