Wer aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof und Papst.” (Luther)
“Wie schon das Israel dem Fleische nach auf seiner Wüstenwanderung Kirche Gottes genannt wird, so wird auch das neue Israel, das auf der Suche nach der kommenden und bleibenden Stadt in der gegenwärtigen Weltzeit einher zieht, Kirche Christi genannt” (Lumen Gentium 9). Wenige Texte waren am Konzil so umstritten wie die Konstitution über die Kirche. Darin wird dem hierarchisch-absolutistischen Kirchenbild des 2. Jahrtausends das Bild von der Kirche als Volk Gottes entgegengesetzt: pilgernd unterwegs, nicht statisch-absolut; immer wieder sündig, nicht heilig; volksnah und bescheiden, nicht elitär und autoritär; ortskirchlich, nicht zentralistisch.
Allerdings wurde im 3. Kapitel das hierarchische Bild einmal mehr festgehalten und von oben sogar eine Nota explicativa praevia hinzugefügt. Es war ein gutgemeinter Kompromiss, um die Konservativen ins Boot zu holen. Heute wissen wir, dass aus dem Kompromiss ein Drama wurde, das gewaltige Spannungen auslöste, unter denen wir bis heute leiden.
Trotzdem: Das Verständnis der Kirche als Volk Gottes unterstreicht die Verantwortung aller Getauften für die Kirche und ihre Sendung in die Welt. Es ermutigt die Gläubigen, sich selbstbewusst zu organisieren. Und es ermächtigt sie zu einem gemeinsamen Priestertum, zu einer stetigen Erneuerung der Kirche und zum Kampf gegen Erstarrung und Dogmatismus.
Felix Senn, Dr. theol., Studienleiter der Theologiekurse
- Paradigmenwechsel im Kirchenverständnis
Mit der funktionalen Bestimmung der Kirche gelang dem Konzil eine radikale Neuorientierung: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Diese Funktion als Zeichen und Werkzeug kann die Kirche nur wahrnehmen, wo sie sich die Traktandenliste von der Welt und den Menschen geben lässt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Wiederhall fände“ (GS 1). Die Anfänge der beiden Kirchenkonstitutionen erhellen sich wechselseitig und bieten zusammen einen verlässlichen Kompass für das Volk Gottes auf dem Weg (LG 9ff).
- Wiederkehr der Heiligen Geistes
Mit der Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen (vgl. LG 9-10 u. ö.) gibt das Konzil – zaghaft noch – dem Heiligen Geist seinen zentralen Platz in der Kirche zurück, von dem er seit der konstantinischen Wende verbannt war: Allen Gläubigen nämlich „eignet die Würde und die Freiheit der Kinder Gottes, in deren Herzen der Heilige Geist wie in einem Tempel wohnt. Sein Gesetz ist das neue Gebot, zu lieben, wie Christus uns geliebt hat. Seine Bestimmung ist das Reich Gottes, das von Gott selbst auf Erden grundgelegt wurde“ (LG 9). Nicht nur die Hierarchie glaubt immer noch kaum an das Wirken des Heiligen Geistes in allen Menschen, das wir in jeder Taufe und jeder Firmung feiern.
- Brechung des Zentralismus
Mit der Autonomie der Ortskirchen und mit der Kollegialität und der Eigenständigkeit der Bischöfe (vgl. LG 22ff.) wird dem unheilvollen Zentralismus im Prinzip die Spitze gebrochen und eine kontextuelle Verortung der Kirche angestrebt: „Die Bischöfe leiten die ihnen zugewiesenen Teilkirchen als Stellvertreter Christi … Sie sind nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom zu verstehen, denn sie haben eine ihnen eigene Gewalt inne und heissen in voller Wahrheit Vorsteher des Volkes, das sie leiten“ (LG 27). Die römische Kurie möchte diesen Text gerne der Vergessenheit anheim geben – und merkwürdigerweise nur wenige Bischöfe wehren sich dagegen. Auch diesbezüglich haben wir Laien „die Pflicht, (unsere) Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären“ (LG 37).
Monika Schmid, Gemeindeleiterin St. Martin, Effretikon
- Den Blick auf Christus frei geben
Johannes XXIII. hat bereits bei der Eröffnung des Konzils den Ausdruck des Aggiornamento geprägt, das Heutig-Machen der Kirche. Er wollte die Fenster öffnen für frischen Wind. Die Kirche muss frei werden für das Wesentliche, für den Blick auf Christus Jesus. Als tiefgläubigem Menschen ging es Johannes um diesen unverstellten Blick aller Getauften auf Christus. Eine konziliare Kirche ist darum eine Kirche, welche die Glaubenserfahrung jedes einzelnen Menschen ernst nimmt und Raum schafft, um diese Erfahrungen im Licht des Evangeliums und der langen Tradition zu deuten.
- Kirche ohne Volk
Die Welt ist voll von Gott ‑ Gott ist in der Welt! Ein neues Denken hat die Kirche damals mit dem Konzil erfasst. Nicht mehr Kirche als einziger Heilsort, sondern Kirche als Werkzeug Gottes in der Welt. Die Kirche hat es (noch) nicht geschafft, diesen (heiligen) Geist so erfahrbar zu machen, dass die Menschen die Kirche als Raum von Menschwerdung wahrnehmen und erleben. Viele Menschen erwarten von der Kirche nichts mehr, sie suchen ausserhalb der Kirche nach Wegen ihre Spiritualität zu leben, sie suchen anderswo Antworten auf ihre drängenden Fragen.
- Eine Anfrage
„Es ist typisch für das nachkonziliare Ringen um die Interpretation der Konzilstexte, dass die einen vor allem Lumen Gentium im Blick haben (Was und wer ist Kirche?), andere Gaudium et spes (Wo und wozu ist Kirche?). Ich bin aufgrund vielfältiger Erfahrung und Reflexion überzeugt, dass die Wo- und die Wozu-Frage bzw. die Antwort darauf über das Schicksal der Kirche in unserer Zeit, über ihren Ort in der Welt von heute entscheiden. Dies ist eine Anfrage nicht nur an die theologische Rezeption der Konzilstexte, nicht nur an die Bischöfe, wie sie die Wegweisungen ihrer Vorgänger befolgen und fortsetzen wollen, sondern an alle im Volk Gottes. Auch die sogenannten Basischristen sollen die Fragen nach dem Was und nach ihrer Rolle (Wer bin ich in der Kirche?) von ihrem Suchen und dem Finden ihres Ortes und von ihrem Einbringen in das Wozu der Kirche her beantworten.“
Bernd Jochen Hilberath: Erledigtes und Verlegtes vom II. Vatikanischen Konzil