Das Reich Gottes und die Würde des Menschen
„Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch grosse Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann … Hier auf Erden ist das Reich schon im Geheimnis da; beim Kommen des Herrn erreicht es seine Vollendung“ (Gaudium et spes Nr. 39).
Die Theologie vom Reich Gottes ist Ausgangspunkt der Befreiungstheologie. Was für die katholische Kirche auf dem Konzil eine neue Öffnung gegenüber der Welt war, wurde für die lateinamerikanischen Bischöfe wenig später (in Medellin 1968 und in Puebla 1979) zur Öffnung gegenüber der Welt der Armen.
Der heutige Dialog stellt sich den Fragen: Welche Bedeutung hat die Befreiungstheologie für die Kirche insgesamt, speziell für Europa? In welchem Zusammenhang steht sie zur Theologie vom Reich Gottes bzw. von der neuen Welt Gottes? Wie verhält sich die Theologie der Befreiung zur Würde des Menschen?
Urs Eigenmann, Befreiungstheologe
Urs Eigenmann hat über Dom Helder Camara promoviert und viele Bücher und Artikel über das Reich Gottes und die Befreiungstheologie verfasst.
- Was die Kirche ist, kann sie nicht bloss dogmatisch abgrenzend behaupten (Wer-Identität), sondern muss sie in Solidarität mit den Armen und Bedrängten praktisch bezeugen (Wo-Identität).
Für das Konzil ist die Kirche, die in innigster Verbindung mit der ganzen Völkerfamilie steht, und in deren Herzen alles wahrhaft Menschliche widerhallt, eine Kirche der Nicht-Ausschliessung.
Die Jüngerinnen und Jünger Christi machen sich zwar Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit zu Eigen, doch gilt ihre besondere Sorge den Armen und Bedrängten aller Art.
Eine Kirche der Nicht-Ausschliessung mit der Option für die Armen und Bedrängten findet ihre Identität nicht durch eine dogmatisch ab- und ausgrenzende Wer-Identität, sondern bezeugt sie praktisch durch eine solidarische Wo-Identität.
Dieser Sicht der Kirche entspricht das biblisch bezeugte Verständnis des Reiches Gottes als universalistisch-egalitär-säkulare Vision menschlichen Zusammenlebens ohne laterale Trennungen und vertikale Diskriminierungen.
- Dass die Praxis der Kirche aus der Zuordnung der Zeichen der Zeit und deren Auslegung im Licht des Evangeliums abzuleiten ist, stellt eine hermeneutische Revolution des Konzils dar.
Das Konzil stellt die Tradition vom Kopf auf die Füsse, wenn es die Kirche in Weiterführung des Werkes Christi dazu verpflichtet, nicht von ihrem Innen auszugehen, sondern von den Zeichen der Zeit als ihrem Aussen.
Das Konzil wollte die künftige Praxis der Kirche weder direkt aus den biblischen Schriften oder aus der bisherigen Tradition und Ekklesiologie deduzieren noch sie induktiv aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erheben. Es griff vielmehr auf den von Johannes XXIII. in Mater et Magistra empfohlenen Dreischritt von sehen – urteilen – handeln und auf die Kategorie der Zeichen der Zeit in Pacem in terris zurück. Indem es die Kirche dazu verpflichtet, von der Erforschung der Zeichen der Zeit auszugehen und diese im Licht des Evangeliums auszulegen, vertritt es eine abduktive Zuordnung zweier theologischer Orte. Durch die Abduktion als schwache Schlussfolgerungsform ergeben sich Perspektiven und Leitlinien für die Praxis der Kirche.
- Das Reich Gottes ist die zentrale Bezugsgrösse für Kirche und Gesellschaft.
Das Konzil stellt Kirche und Gesellschaft in einen Zusammenhang mit dem Reich Gottes. Von diesem ist in allen Konstitutionen, in sieben von neun Dekreten und in zwei von drei Erklärungen die Rede.
Für das Konzil gründet die Kirche in dem von Jesus bezeugten Reich Gottes; sie hat den Auftrag, dieses zu verkünden und in allen Völkern zu begründen, und sie lechzt nach dessen Vollendung. Das Konzil ist überzeugt, dass das Reich Gottes für die Ausgestaltung dieser Erde bedeutsam ist und zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann.
Das Konzil äussert sich zwar nicht über die biblisch bezeugte inhaltliche Fülle und komplexe Struktur des Reiches Gottes, verkürzt es aber auch nicht durch die über weite Strecken der Christentumsgeschichte erfolgte Privatisierung, Spiritualisierung und Verjenseitigung. Es erinnert an den biblischen Ursprung des Reiches Gottes, macht auf seine Bedeutung für die Kirche und die Gesellschaft aufmerksam und weist auf seine als Geschenk Gottes verheissene Vollendung hin.
Susann Schüepp Brunner, Theologin
Susann Schüepp hat über die kontextuelle Bibellektüre von Frauen in Brasilien promoviert und ist Fachverantwortliche «Glaube und Gerechtigkeit» sowie «Religion und Kultur» beim Fastenopfer.
- Befreiungstheologie ist im Kern mystisch und prophetisch – ¡Da nos un corazón grande para amar, fuerte para luchar!
„Die Leidensantlitze der Armen sind Leidensantlitze Christi. Sie stellen kirchliches Handeln und kirchliche Pastoral sowie unser Verhalten als Christen zutiefst in Frage“ (Aparecida 393 mit Bezugnahme auf Santo Domingo 178f; Puebla 31-39).
In Leidenden, in Menschen, die in ihren Rechten verletzt sind, begegnen wir Christus selbst (vgl. Mt 25,35-45). Ebenso sind Gottes Wirken und Nähe da erfahrbar, wo Menschen sich wehren gegen unterdrückerische Verhältnisse und wo Entrechtete für ihre Rechte einstehen.
- Die Option für die Armen darf nicht paternalistisch missdeutet werden.
Im Zentrum der Befreiungstheologie stehen arme, ausgegrenzte und entrechtete Menschen – und zwar als Subjekte, nicht als Objekte (auch gutgemeinten Handelns). Bestehende (auch kirchliche) Machtverhältnisse müssen immer mitbedacht werden, um paternalistische Missdeutungen der Option für die Armen zu vermeiden.
- Befreiungstheologisches Handeln muss die Entrechteten als Subjekte stärken.
Zentrale Faktoren dazu sind (im Kontext von Brasilien) die Nähe von befreiungstheologischen Akteuren bei Basisgemeinden und sozialen Bewegungen, die Methode Sehen – Urteilen – Handeln sowie die Wiederaneignung der Bibel.
Die befreiungstheologischen Subjekte haben sich zunehmend differenziert, ebenso die Zugänge und Themen die sie einbringen.
- Befreiungstheologisches Handeln bedarf stets der Selbstkritik und Skepsis gegenüber Ideologien.
Der Ideologievorwurf wurde häufig zu Unrecht verwendet und diente dazu, befreiungstheologisches Handeln und Denken zu bekämpfen.
Nichtsdestotrotz bedürfen auch befreiungstheologisches Handeln und Denken immer wieder der kritischen und selbstkritischen Reflexion: Wo werden Religion, Glaube, Theologie ideologisch vereinnahmt oder instrumentalisiert und wie lässt sich dies verhindern? Wichtige Elemente dazu liegen in der kritischen Hermeneutik von Befreiungstheologien und in der Ausrichtung an Jesu Reich Gottes Verkündigung.