Der Kampf zwischen Freiheit und Wahrheit am Konzil
„Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat.“ Dies „hat seine Grundlage in der Würde der Person, deren Forderungen die menschliche Vernunft durch die Erfahrungen der Jahrhunderte vollständiger erkannt hat. Jedoch hat diese Lehre von der Freiheit ihre Wurzeln in der göttlichen Offenbarung, weshalb sie von Christen umso gewissenhafter beobachtet werden muss.“ (Dignitatis humanae 2 und 9)
Die ‚Erklärung über die Religionsfreiheit‘ war am Konzil heiss umstritten. Früher galt: Dem Irrtum kommt kein Recht zu, nur der Wahrheit – und nur die katholische Kirche verkündet die Wahrheit. Neu gilt: Träger eines Rechts kann nie eine Wahrheit sein, sondern nur eine bestimmte Person.
„…einer der theologisch aufregendsten und kirchenpolitisch vielleicht weitreichendsten Texte, deren Konsequenzen bis heute unabgearbeitet sind“. (Michael Rammender, Münster): Es ist)
Ohne diese Erklärung „hätte das Konzil den angezielten Brückenschlag zur Moderne verfehlt“. (Eberhard Schockenhoff, Freiburg i. Br.)
Für Johann Baptist Metz eröffnen solche Konzilsaussagen ein neues Verhältnis der Kirche zur menschlichen Freiheitsgeschichte. Ein neues Verständnis von ‚Gnade als Freiheit‘ bricht durch: christliche Erfahrung der Freiheit im Sinne von Befreiungsprozessen. Freiheitserfahrung und Glaubenserfahrung decken sich, werden zur Quelle von Theologie und Seelsorge. ‚Katholische‘ Freiheits- und Glaubenserfahrungen werden zu Orten der Kirche.
Willy Spieler, ehem. Redaktor der ‚Neuen Wege‘
Autor: „Für die Freiheit des Wortes“ 2009: Freiheit und Wahrheit vor, am und nach dem Konzil
These 1. Für das Konstantinische Zeitalter galt der Grundsatz: In Fragen der Religion hat nur die katholische Wahrheit ein Recht auf Dasein, das auch mit staatlicher Gewalt durchzusetzen ist.
- Durch das Religionsdekret von Kaiser Theodosius 380 wird die katholische Kirche zur ausschliesslichen Staatsreligion des römischen Reichs. Sie allein ist wahr. Die Nichtkatholiken, „welche wir für toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande zu tragen, Ketzer zu heissen“ und sollen „von der Strafe unseres Zorns getroffen werden“. So geht es weiter durch die Jahrhunderte. Selbst Thomas von Aquin (1125–1274) bejaht die Todesstrafe für Ketzer.
- Nach der Französischen Revolution verurteilen die Päpste die Gewissens- und Religionsfreiheit als Irrlehre. „Pestilentissimus error“ nennt sie Gregor XVI. in der Enzyklika Mirari vos 1832. Der Syllabus von 1864 sagt jeder Politik den Kampf an, die nicht „die katholische Religion als einzige Religion des Staates betrachtet unter Ausschluss aller anderen Kulte“.
- Dem stimmt im Grundsatz auch noch Pius XII. in seiner Toleranzansprache 1953 zu, meint aber: „Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmassnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.“
These 2: Das Konzil bekennt sich erstmals zur Religionsfreiheit; der Staat ist nicht einer Religion, sondern der Religionsfreiheit und dem weltlichen Gemeinwohl verpflichtet.
- Mit der Erklärung über die Religionsfreiheit verabschiedet sich das Konzil endgültig vom Konstantinischen Zeitalter. Die Religionsfreiheit ist jetzt in der „Würde der menschlichen Person“, „in ihrem Wesen selbst begründet“. Grundrechte können nur dem Menschen zukommen, nicht irgendeinem Prinzip, und sei es die Wahrheit.
- Widerrufen wird auch das Prinzip des katholischen Staates. Der Staat hat kein Mandat, zwischen wahrer und falscher Religion zu unterscheiden. Sein Wesenszweck liegt „in der Sorge für das zeitliche Gemeinwohl“. Die Politik wird damit autonom und säkular, was die Pastoralkonstitution Über die Kirche in der Welt von heute näher ausführt.
- Das Konzil anerkennt nicht nur die pluralistische Gesellschaft, sondern auch einen politischen Pluralismus im Volk Gottes. Rückblickend folgte das Konstantinische Zeitalter einem Dreistadiengesetz, in dem nicht das Prinzip, wohl aber der weltliche Arm der Kirche wechselte: Im 1. Stadium ist dieser Arm das Sacrum Imperium, im 2. Stadium, nach der Reformation, geht er auf die katholisch verbliebenen Staaten über, im 3. Stadium, nach der Einführung des säkularen, demokratischen Rechtsstaates, sollten katholische Parteien retten, was noch zu retten war.
These 3: Nach wie vor besteht Klärungsbedarf zum Stellenwert der Religionsfreiheit in der Kirche sowie zum Verhältnis von Gewissensfreiheit und ‚sittlicher Ordnung‘.
- 1988 haben Kardinal Ratzinger und Marcel Lefebvre ein Protokoll unterzeichnet, das zwar nie in Kraft getreten ist, das aber die Aussagen des Konzils über die Religionsfreiheit relativiert hätte. Kann Religionsfreiheit vom Lehramt wieder zur Disposition gestellt werden?
- Das Konzil versteht die Religionsfreiheit nicht nur als Individualrecht, sondern auch als korporatives Recht der Kirche selbst, was dieser die juristische Möglichkeit gibt, die Menschenrechte in ihrem Innenbereich zu negieren. Wie kann die Kirche da beispielgebend sein?
- In Fragen der „objektiven sittlichen Ordnung“ hält schon das Konzil am Deutungsmonopol des Lehramtes für die ganze Gesellschaft fest. Der Staat, der sich darüber hinwegsetzt, wird heute der „Diktatur des Relativismus“ (Kardinal Ratzinger vor Beginn des Konklaves 2005) bezichtigt. Gibt es in Fragen der Ehescheidung, der Homo-Ehe, der Empfängnisverhütung oder des Schwangerschaftsabbruchs keine persönliche Freiheit, auch keine Gewissensfreiheit?
Adrian Müller, Kapuziner, Journalist und Seelsorger
Adrian Müller ist Präsident des Vereins tagsatzung.ch.
Orte der Freiheit – aus seelsorglich-praktischer Sicht
- Auch ohne die eine Wahrheit bleibt die Freiheit beschränkt.
In einer Welt mit vielen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen gibt es vielleicht Wahrheiten, aber nicht die eine und bindende Wahrheit. Und die römisch-katholische Wahrheit ist eine unter vielen – wegen ihrer Antiquiertheit oft eine erfolglose Wahrheit, wie die Legalisierung der Homo-Ehen zeigt.
Postmoderne Menschen haben je nach Situation unterschiedliche Wahrheiten. Moderne Menschen mühen sich mit einer persönlichen Wahrheit ab.
Heutige Gesellschaften handeln trotz vielen Wahrheiten gemeinsame Normen und Ethiken aus.
- Wahrheit als Ästhetik kann nicht absolut gehandelt werden.
Stimmungen und Wohlgefallen sind oft wichtiger als der Inhalt. Diskutiert wird über Gefühle und persönliche Vorlieben. In gesellschaftlichen Diskursen sind Bilder oft wichtiger als Argumente. Auch Religionen werden eher mit Bildern denn mit Worten provoziert.
- Wahlgemeinschaften und Vereinzelung prägen das Leben.
Church-Shopping – Religion wird nicht an Wahrheit, sondern an Nützlichkeit und Gefallen gemessen. Sinus-Milieu-Studie: Wenn die Mitte fehlt – ab ins eigene Nest.
Neue Gemeinschaftsformen sind nicht unbedingt klassische Versammlungsformen.
- Echte Laien sind die Freien.
Geregelt sind die Sakramente und die kirchliche Hierarchie. Wer nicht in diese Sphären tritt, bleibt ein freier Mensch, der fast tun und lassen kann, was er oder sie will.
Probleme haben Priester und die verhinderten Priesterinnen.
Jede und jeder kann beten, meditieren, helfen, heilen, diskutieren, … wie er oder sie will.
- Kundengerechtes Handeln geht den Weihen und Sendungen vor.
Die Szene der geistlichen Begleiterinnen hat teilweise die Funktion der Beichtväter übernommen und ist nicht kontrolliert. Jede und jeder darf begleiten, wenn er oder sie Kundschaft findet.
Lieber einen (ästhetisch und menschlich) stimmigen Krankensegen als eine schlechte Krankensalbung.
Meine Feier, unsere Familienfeier geht der kirchlichen Feier vor (vgl. Taufen und Heiraten).
- In einer komplexen Welt gibt es viele und unterschiedliche Berufungen und Dienste.
Es gibt nicht nur einen Ruf – und vor allem nicht nur einen Ruf zur Weihe. Menschliche Talente und Gaben sind sehr unterschiedlich und als solche von Gott geschenkt, damit sie umgesetzt werden. Heute leiden kirchliche Menschen oft an einer Verengung der Perspektive. Wo bleibt der Ruf zum Schreiner, zum Verwalter, zum Pfleger, zum Sozialarbeiter – jeweils auch in weiblicher Form.
„Lange Jahre haben Menschen ihre Kräfte verbraucht, um Priestern zu helfen und zu Diensten zu sein. Ihre ausdauernde und treue Beharrlichkeit hat niemandem Mut gemacht, ihre Aufgabe zu übernehmen. Einen solchen Dienst mag man bewundern, aber er bringt keine Freiheit in der Kirche hervor“ (Albert Rouet, Auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche, in: Feiter & Müller, Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof? Ermutigende Erfahrungen der Gemeindebildung in Poitiers, S.34; 157).
Medienmitteilung: Religiöse Freiheit – auch innerhalb der Kirche
Paul Jeannerat / 4. März 2013 (Kipa)
Für die Konzilsgeneration ist die Erklärung über die Religionsfreiheit ein Höhepunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils. Für heutige junge Katholikinnen und Katholiken sind Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. Diese sehr unterschiedliche Wahrnehmung eines der umstrittensten Themen des Konzils prägte am 19. Katholischen Dialog die Auseinandersetzung mit dem Erbe des 2. Vatikanischen Konzils.
Das Forum für offene Katholizität (FOK) hatte zum 19. Katholischen Dialog eingeladen, um einen Beitrag zu leisten zur Aufarbeitung der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie gewöhnlich kamen etwa 40 Interessierte, Priester, Laientheologen, Sozialarbeiterinnen und weitere an einer offenen Kirche interessierte Personen, ins RomeroHaus Luzern.
Erster Referent war Willy Spieler (Zürich), alt Redaktor Neue Wege und Exponent des Religiösen Sozialismus. Von ihm wurde eine fundierte Auseinandersetzung mit der Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) erwartet, und diese Erwartung wurde voll erfüllt. Anschaulich legte er den Grundsatz dar, der bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil galt: In Fragen der Religion hat nur die katholische Wahrheit ein Recht auf Dasein; Religionsfreiheit ist ein Irrtum, der auch mit staatlicher Gewalt zu bekämpfen ist.
Am 7. Dezember 1965 (am letzten Verhandlungstag) aber machte die Kirche in dieser Frage eine radikale Kehrtwende: Die versammelten Bischöfe bejahten die Religionsfreiheit als im Wesen der menschlichen Person begründet und anerkannten die Gewissensfreiheit als Grundrecht. Diese Neuausrichtung der Kirche ist für viele Leute der Konzilsgeneration so umwälzend, dass es nicht erstaunlich ist, dass Erzbischof Lefèvbre und seine Getreuen bis heute die Erklärung über die Religionsfreiheit ablehnen.
Ganz anders der zweite Referent, Adrian Müller, ein jungen Kapuziner, Guardian des Klosters Rapperswil. Auch da wurde niemand enttäuscht: Bruder Adrian (Dr. theol. mit einer Dissertation über Religion im Film), der 1965, im letzten Jahr des Zweiten Vatikanums geboren wurde und der folglich das Konzil nur aus dem Geschichtsunterricht kennt, zeigte sich von der Auseinandersetzung über die Religionsfreiheit nicht mehr betroffen. Freiheit in religiösen Dingen und Gewissensfreiheit in ethischen Fragen sind für ihn Selbstverständlichkeiten, die seine Generation ohne Rückfrage in Anspruch nimmt. „Es gibt vielleicht Wahrheiten, nicht aber die eine und bindende Wahrheit, die römisch-katholische Wahrheit ist eine unter vielen“, schreibt Müller in seinen Thesen, und in seinem Referat präzisiert er, dass ja auch die „römisch-katholische Wahrheit nur im Plural“ besteht.
Religionsfreiheit ist darum auch im pastoralen und liturgischen Bereich selbstverständlich: „Jede und jeder kann beten, meditieren, helfen, heilen, diskutieren … wie sie oder er will“, schreibt er in seinen Thesen, und im Referat erzählt er aus dem Leben im Kloster: Die Kapuziner von Rapperswil experimentieren mit verschiedenen Formen des gemeinschaftlichen Gebets; dabei eckt der eine Bruder an, weil er den patriarchalen Begriff Herr verwendet, und der andere, weil er weibliche Vokabeln für Gott braucht.
In der Diskussion wurde Adrian Müller teils zugestimmt, teils heftig widersprochen. Erfahrbar aber wurde, dass auch 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Klärungsbedarf zur Bedeutung der Religionsfreiheit in der Kirche und zum Verhältnis von Gewissensfreiheit und sittlicher Ordnung besteht.