Das europäische Christentum leidet unter einer fundamentalen Krise. Gründe sind seine institutionelle Verfasstheit und die mangelnde Glaubwürdigkeit angesichts der systematischen Verletzung von Menschenrechten, insbesondere der Rechte von Frauen und Homosexuellen, aber auch wegen des sexuellen Missbrauchs und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.
Viele reduzieren künftiges Christentum darum auf die Abdeckung spiritueller Bedürfnisse oder ziehen sich zurück auf fundamentalistische Gruppierungen. Am Ende verwaltet die Kirche nur noch sich selber. Die finanzielle und akademische Macht europäischer Kirchen steht somit in einem seltsamen Kontrast zu ihrer moralischen und spirituellen Armut.
Wenn jedoch Christinnen in Europa den säkularisierten Zivilisationen des autonomen Subjekts und der intellektuellen Skepsis produktiv und mit prophetischer Kraft zu begegnen wüssten, könnten Kirchen anderer Kontinente von dieser Zukunftsarbeit profitieren. Denn dieselben Erfahrungen werden auch auf sie zukommen.
Der Dialog wird moderiert vom Theologen und Journalisten Erwin Koller, Begründer der Stern–stunden des Schweizer Fernsehens. Als Expertinnen wirken mit:
Hermann Häring, Prof. emer. für Dogmatische Theologie
Er lehrte Theologie und später Wissenschaftstheorie und Theologie an der Universität Nijmegen (Niederlande). 2013 publizierte er das Buch: Versuchung Fundamentalismus. Glaube und Vernunft in einer säkularen Gesellschaft.
- Die europäischen Kirchen sind einem unerbittlichen Aufklärungs- und Säkularisierungsdruck ausgesetzt. Das ist gut so.
Für die innerkirchliche Erneuerung und Zukunftsgestaltung ist dies keine Katastrophe, sondern ein Glücksfall, denn dieser Druck zwingt die Kirchen zur Klarstellung ihrer eigenen Identität und Lebenspraxis, der sie jahrhundertelang ausgewichen sind. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand haben die Kirchen das Zentrum der christlichen Botschaft verfremdet und diese Verfremdung durch kirchliche Wahrheitsansprüche legitimiert.
Orientierende Signalpunkte sind: Innerkirchliche Reformbewegungen seit 50 Jahren, theologische und kirchenpraktische Polarisierungen, Universalisierung des innerkirchlichen Dialogs durch kontextuelle und emanzipatorische Bewegungen.
- Aufklärung und Säkularisierung waren und sind Protestformen gegen das real existierende Christentum um eines besseren Christentums willen.
Der Protest wehrt sich gegen die Verquickungen des Glaubens mit einer höheren Macht, einer besseren Wahrheit, einer unbedingten Heilsgarantie und einem intervenierenden, also heteronomen Gott. Dieser Protest findet eine Bestätigung in der christlichen Kernbotschaft, soweit sie sich historisch eruieren und hermeneutisch aktualisieren lässt.
Orientierende Signalpunkte sind: Neuentdeckung des historischen Jesus und der urchristlichen Gemeinde, Neubelebung einer prophetischen und gesellschaftskritischen Glaubenspraxis, Entdeckung und christliche Begründung der Menschenrechte; Umwälzungen im Gottesbild und Entwicklung eines solidarischen interreligiösen Dialogs.
- Die europäischen Kirchen müssen sich entscheiden zwischen einem exklusiven, von Angst geprägten Fundamentalismus und einer Spiritualität der leidenschaftlichen Welt- und Menschenliebe.
Diese Alternative berührt den Kern einer authentischen, freien und zugleich solidarischen christlichen Lebenspraxis. Die Leidenschaft für Geschwisterlichkeit und Kommunikation wird zum Modell für Entscheidungssituationen, in die das Christentum weltweit eintreten wird.
Orientierende Signalpunkte sind: Neudefinition von Sakralität und Amt, neue Formen kirchlicher Gemeinschaft, kirchliche und gesellschaftliche Stellung der Frauen, Transparenz und Partizipation in Kirche und Gesellschaft, kategorische Geltung von Gewaltverzicht, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gegenseitiger Treue, Option für die Armen als eine reflektierte Kategorie.
Christiane Faschon, Journalistin, Religionspädagogin, theologische Erwachsenenbildnerin
Sie arbeitet derzeit an einer Studie über die religiöse Identität von Christinnen und Christen jüdischer Herkunft und engagiert sich im interreligiösen Dialog.
- Neudefinitionen von Sakralität und Amt sind von der Basis her bereits im Gang. Laien übernehmen seit dem Konzil vermehrt Aufgaben, die früher Priestern oblagen. Dies führt zu mehr Geschwisterlichkeit, aber auch zu einer Praxis im Graubereich.
Gemeinden werden zusammengelegt, um die Eucharistie und damit den Priester im Mittelpunkt zu belassen – auf Kosten von Seelsorge und Diakonie. Wenn Laien Aufgaben übernehmen, stärkt dies neue Glaubensformen. Dies erfolgt allerdings oft im Graubereich, weil am Ende dann doch der Priester entscheidet. Eine Klärung ist dringlich. Neue Formen kirchlicher Gemeinschaft sind nur möglich in weniger Priester-zentrierten Strukturen. Das Konzil hat mit dem Konzept des Volkes Gottes dafür eine theologische Basis geschaffen. Und Papst Franziskus ist mit seiner Forderung nach mehr Regionalität beim Wort zu nehmen.
- Die Neubelebung einer prophetischen und gesellschaftskritischen Glaubenspraxis ist dringlich. Die sozialen und medizinischen Entwicklungen am Beginn und am Ende des Lebens fordern Christen und Christinnen heraus.
Die Fertilitätsmedizin führt weltweit zur Ausbeutung von armen Leihmüttern und Eispenderinnen, Kinder haben im Extremfall drei Mütter und zwei Väter, die Situation des Kinderschutzes ist ungeklärt. Das fordert die Kirchen und die interreligiöse Zusammenarbeit heraus – weit über die Stellungnahme zu einzelnen Punkten wie Embryonenschutz hinaus.
Sterbehilfe und assistierter Suizid sind wichtige Themen. Doch zurzeit mangelt es an gesellschaftlicher und politischer Partizipation. Kirchenleitungen sprechen Verbote aus statt Alternativen anzubieten (Alters-WGs, Entlastungsangebote). Der wachsende Pflegenotstand in unserer alternden Gesellschaft darf nicht unterschwellig zur Lösung mit dem assistierten Suizid führen. Die Diakonie muss in den Gemeinden ein neuer Schwerpunkt werden – von Männern und Frauen gleichberechtigt getragen. Der Mensch ist ein Ebenbild Gottes, darum muss jeder Mensch befähigt werden, rechtzeitig über das eigene Lebensende Entscheide zu treffen (Patientenverfügungen).
- Die Option für die Armen erfordert ein transparentes und nachhaltiges Finanzwesen. Geld ist ein Lebensmittel, keine Privatsache. Dafür müssen sich Kirchen einsetzen.
Einige Kirchenleitungen wehren sich bis heute gegen Transparenz in ihren Ausgaben, Finanzen und Anlagen und hebeln mit dem Kirchenrecht das Arbeitsrecht aus (Diskriminierung nach Geschlecht, Zivilstand und Religion). Die Bibel fordert jedoch gerechte Löhne und ein gerechtes Wirtschaften. Darum stehen die Kirchen in der Pflicht. Und Frauen dürfen nicht länger in unbezahlte oder schlecht entlöhnte Bereiche abgeschoben werden. Das staatskirchenrechtliche Modell der Schweiz verhindert, dass grosse Geldsummen intransparent verwendet werden, und kann ein Vorbild für andere Länder sein.
Die Kirchen müssen sich auf allen Ebenen aktiv für den verantwortlichen Umgang mit Geld engagieren. Gute Beispiele sind Pfarrer Raiffeisen mit seiner Genossenschaftsbank, Alternativbanken, Mikrokredite zur Schaffung von Arbeitsplätzen, solidarische Unternehmermodelle, Gesprächskreise mit Verantwortlichen des Finanzwesens, wie sie z.B. die jüdische Gemeinde in Frankfurt pflegt. Hier kann der interreligiöse Dialog zu einem kreativen Pool werden.
Medienmitteilung: Europa – Experimentierfeld für künftiges Christentum
Paul Jeannerat / 27.5.14 (Kipa)
Aufklärung und Säkularisierung waren und sind für die Kirchen Europas nicht Katastrophen, sondern ein Glücksfall, der zu einem authentischeren Christentum führt. Die Kirchen Europas stehen im Spagat zwischen einem von Angst geprägten Fundamentalismus und einer Spiritualität prophetischer und gesellschaftskritischer Glaubenspraxis mit leidenschaftlicher Welt- und Menschenliebe. Was heute die europäischen Kirchen durchschüttelt, wird morgen das Christentum weltweit herausfordern und kann gesamtkirchlich zu einer echteren Praxis der christlichen Botschaft führen.
So lässt sich das Ergebnis des 28. Katholischen Dialogs zusammenfassen, der am 26. Mai im RomeroHaus Luzern unter Leitung des Theologen und Journalisten Erwin Koller stattfand. Etwa fünfzig Interessierte folgten den Ausführungen der Experten Hermann Häring, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Nijmegen, und Christiane Faschon, theologische Erwachsenenbildnerin und Journalistin.
Hermann Häring bezeichnete Aufklärung und Säkularisierung als „Protestformen gegen das real existierende Christentum“ und als „Chance für ein besseres Christentum“. Die Neuentdeckung des historischen Jesus und der urchristlichen Gemeinde durch innerkirchliche Reformbewegungen seit 50 Jahren haben, so führte Häring aus, zu einer Neubelebung der prophetischen und gesellschaftskritischen Glaubenspraxis geführt.
Neues Gottesbild
Diese Praxis sei geprägt von einem neuen Gottesbild, entdecke und begründe die Menschenrechte als christliche Glaubenswahrheit, entfalte neue Formen kirchlicher Gemeinschaft mit Gleichberechtigung von Frau und Mann, engagiere sich mit der Option für die Armen für Gerechtigkeit und entwickle neue Formen des interreligiösen Dialogs.
Das Christentum in Europa stehe in einer Situation der Entscheidung zwischen sterilem Fundamentalismus und der evangelischen Leidenschaft für Geschwisterlichkeit, eine „Feuertaufe, die dem Christentum weltweit bevorsteht“.
Zukunftsarbeit der europäischen Kirchen
Christian Faschon illustrierte diese Herausforderung an drei Beispielen. Erstens Neudefinition von Sakralität und Amt. Durch das Ernstnehmen des vom Zweiten Vatikanischen Konzil bevorzugten Konzepts des Volkes Gottes sei die Überwindung der Priester zentrierten Strukturen zu erreichen, mehr Geschwisterlichkeit zu pflegen und so eine neue Form kirchlicher Gemeinschaft zu gestalten. Zweitens Neubelebung einer prophetischen und gesellschaftskritischen Glaubenspraxis. Diese sei gefordert von den sozialen und medizinischen Entwicklungen am Beginn und am Ende des Lebens (Fertilitätsmedizin, Sterbehilfe). Hier sei mehr zu tun als punktuelle Stellungnahmen von Kirchenleitungen zu einzelnen Punkten wie Embryonenschutz oder assistierter Suizid, hier sei ein umfassender Ausbau christlicher Diakonie unabdingbar, der mithilft, den wachsenden Pflegenotstand zu lindern und der die Menschen befähigt, rechtzeitig über das eigene Lebensende Entscheide zu fällen (Patientenverfügungen).
Drittens Einsatz für Gerechtigkeit mit Option für die Armen. Erfordert sei das Engagement der Kirchen für den verantwortlichen Umgang mit Geld, der Einsatz für ein transparentes und nachhaltiges Finanzwesen – in der Wirtschaft und auch in kirchlichen Belangen. Das staatskirchenrechtliche Modell der Schweiz mit seiner demokratischen Kontrolle der Geldflüsse stellte Christiane Faschon als Vorbild für andere Länder vor.