Den Glauben neu denken erfordert auch eine neue Ausrichtung der theologischen Anthropologie. Sie ist spätestens seit Augustinus geprägt von der Abwertung, ja Sündhaftigkeit des Körpers und der Sexualität und hat bis heute und weit über die katholische Welt hinaus das Selbstverständnis und die Moral der Menschen geformt – bis hin zu schrecklichen Missbräuchen. In fast allen Religionen gibt es zwischen der Ethik der Geschlechtlichkeit und ihrer Praxis tiefe Gräben.
Das biologische Geschlecht ist kulturell geprägt und unterliegt geschichtlichen Veränderungen. Die bipolare Sicht auf die Geschlechter verlangt ebenso eine Neubewertung wie die Homosexualität. Wer dies akzeptiert, spricht anders über Sexualität, stellt andere Fragen und praktiziert ein anderes Verhältnis zu Körper und Geschlechtlichkeit.
Regina Ammicht Quinn, Tübingen, Trägerin des Herbert-Haag-Preises 2015
Sie lehrt als theologische Ethikerin an der Universität Tübingen und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Concilium. Der Titel ihrer Habilitation heisst „Körper – Religion – Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter“ (1999). Theologische Lehrstühle wurden ihr verweigert, die Studientagung „Let’s think about sex“ konnte sie auf Intervention von Bischof Fürst in dessen Diözese nicht durchführen.
Zitat 1: „Gott schuf nun die gegenwärtige Welt, und er fesselte die Seele an den Körper zu ihrer Bestrafung.“ (Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, I, 8.)
- Die vielstimmige Geschichte des Christentums ist durchzogen von einer dominanten Tradition des Misstrauens gegen den Körper.
- Nicht nur in den westlich industrialisierten Ländern des Nordens steht heute der Körper in einer historisch nie gekannten Weise im Mittelpunkt. Der zeitgenössische Körperkult, der den Körper anbetet und ihm opfert, ist nicht das Gegenteil einer als christlich verstandenen Körperverachtung, sondern dessen konsequente Weiterführung.
- Die abendländisch-christliche Körperfeindlichkeit ist das grosse und tragische Missverständnis des Christentums. Es ist tragisch, weil es Leid verursacht hat und untergründig bis heute in säkularen Strukturen weiter wirkt. Und es ist tragisch, weil die Fleischwerdung Gottes auf dem Hintergrund des beständigen Misstrauens gegen das eigene Fleisch einen absurden Klang bekommt und zur Erosion des Inkarnations-Zeugnisses führt.
Zitat 2: Zadie Smith erzählt von drei Frauen, zwei Musliminnen und einer Christin, die „aus streng religiösen Familien [kamen], aus Häusern, in denen Gott bei jeder Mahlzeit erschien, jedes Kinderspiel unterwanderte und in einer Lotusposition und mit Taschenlampe unter der Bettdecke sass, um nachzusehen, dass nichts Unziemliches geschieht“ (vgl. ihr Buch „White Teeth“. New York 2000, 65; dt. Zähne zeigen).
- Es gibt keine christliche Sexualmoral. Haltungen zu Einzelfragen sexuellen Handelns sind nicht der Kernpunkt einer christlichen Identität.
- Für sexuelles Handeln gelten die Normen, die auch das sonstige Leben bestimmen – allen voran die Achtung der Würde (auch der eigenen Würde) und die Ablehnung von Gewalt (auch die Ablehnung von Gewalt gegen sich selbst).
- Ob eine spezifische sexuelle Handlung moralisch gut oder schlecht ist, lässt sich nicht durch aussermoralische Kriterien beantworten. Ein Trauschein ist ein solches aussermoralisches Kriterium; Form und Funktion der Geschlechtsorgane des Partners oder der Partnerin ein anderes.
- Gleichgeschlechtliches Begehren ist in sich keine moralische Frage.
Zitat 3: „Genderismus ist eine Ideologie – politisch umgesetzt als ‚Gender Mainstreaming’ –, welche die vollkommene Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensbereichen erreichen möchte. … Letztziel ist die Zerstörung der Keimzelle der Gesellschaft“ (Kathmedia).
- Gender-Forschung in der Theologie ist keine Ideologie, sondern ein kritisches Instrument zur Aufdeckung von Ideologien.
- Eine Theologie, die sich dem verschliesst, verfehlt ihren eigenen Auftrag: Sie spricht von Gott in der Verabsolutierung oder Romantisierung der eigenen Biografie, im Interesse des eigenen Machterhalts oder in der Erstarrtheit des eigenen Begreifens und nicht im Angesicht der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen.
Thomas Staubli, Dr. theol., Dozent für Altes Testament an der Universität Freiburg/CH
Er ist Mitbegründer des dortigen BIBEL+ORIENT Museums. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die historische und biblische Anthropologie (siehe Begleiter durch das Erste Testament 52014 und Menschenbilder der Bibel [gemeinsam mit Silvia Schroer] 2014).
Die drei Begriffe Körper, Religion und Sexualität eröffnen Spannungsfelder, die sich in Exegese, Theologie und Gesellschaft bzw. Rechtsprechung exemplarisch auftun. Meine Thesen möchten verdeutlichen, dass die moderne säkulare Gesellschaft der biblischen Kultur nichts voraus hat. Vielmehr kann die Kirche, sensibilisiert durch ihren Schatz, die Bibel, aufklärend wirken, wenn sie selber mit dem guten Beispiel vorangeht.
- Das Lied der Lieder ist das Vermächtnis einer religiösen Tradition, welche die erotische Liebe wertschätzt und integriert.
Das Hohelied feiert die erotische Liebe zwischen Frau und Mann. Die Exegese der Liebesliedsammlung zeigt, dass sie Traditionen der kanaanäischen Naturfrömmigkeit fortführt. Darin ist die Frau tonangebend. Die Mutter, die genau siebenmal in kunstvoller Anordnung erwähnt wird, bietet der Liebe Zufluchtsräume. Und die Göttin waltet schützend über den Liebenden. Neopatriarchale exegetische Versuche, die Liebeslieder im Sinne der Prophetie als Allegorie auf Gott (= Mann) und Volk (= Frau) zu lesen, sind aufgrund dieser deutlichen Textsignale abzulehnen.
- Der biblische Gott ist das Urbild sexuell differenzierter, sich begehrender Ebenbilder.
Die theologische Anthropologie ist befangen in philosophischen Menschenkonzepten. Der biblische Mensch fragt nicht in erster Linie nach sich selbst, sondern nach einem ihm entsprechenden Gegenüber. Dieses Bezogensein ist elementar, auch für das Verständnis Gottes; denn wenn der Mensch als Mann und Frau sein Ebenbild ist, dann muss auch Gott in sich bereits diese erotische Beziehungsfähigkeit beinhalten, die auf leidenschaftlichem Begehren beruht. Tatsächlich entfaltet der weisheitliche Mythos von Sophia, die bei der Schöpfung vor JHWH tanzt (Spr 8,30f), genau diese Auffassung kreativer, göttlicher Potenz aus der Freude und dem Überschwang erotischen Scherzens heraus.
- Urteile über Genitalbeschneidungen sind Symptome religiöser Bruchlinien in antiken und heutigen Gesellschaften.
Diese These möchte bewusst machen, wie ausgesprochen körperlich sich die ganze Verhältnisbestimmung von Körper, Religion und Sexualität in heutigen Gesellschaften manifestiert, und zwar im intimsten Bereich des Körpers, an den Sexualorganen. In Gesellschaften, die Beschneidung praktizieren, wird diese als symbolische Inszenierung eines Kulturaktes, einer Zivilisierung verstanden. Darauf beruhen bildhafte Ausdrücke wie «Beschneidung des Herzens» (Jer 9,25) für ein richtiges Verstehen. Ein im Westen vorherrschendes Verständnis sieht hingegen in der Beschneidung einen barbarischen Akt der Verletzung der Körperintegrität. Darauf beruhend werden Gesetze gegen die Genitalbeschneidung von Männern und Frauen erlassen. Gleichzeitig bietet aber der Medizinal-Markt ein grosses Sortiment an genitalen Operationen an, darunter auch Schamlippenbeschneidungen, die gefragt sind aufgrund von Trends, die im Namen der Schönheit über die Medien propagiert werden. Diese Diskrepanz offenbart Tendenzen in der heutigen Gesetzgebung, die Tradition und Religion kriminalisieren, während die Medizinal-Industrie profitiert. Eine Gesellschaft, die solche Gesetze fördert, tut sich schwer mit der Andersheit von Minoritäten.
Medienmitteilung: Katholischer Dialog in der Reihe „Den Glauben neu denken und zur Sprache bringen“ – Körper – Religion – Sexualität
Paul Jeannerat / 9.März 2015 (kath.ch)
Es gibt keine christliche Sexualmoral. Für sexuelles Verhalten gelten die Normen, die auch das sonstige Leben bestimmen: die Achtung der Würde (auch der eigenen) und die Ablehnung von Gewalt (auch jener gegen sich selber). Der biblische Gott ist das Urbild sexuell differenzierter, sich begehrender Ebenbilder. Und der biblische Mensch fragt nicht in erster Linie nach sich selbst, sondern nach einem ihm entsprechenden Gegenüber.
Die Bischofssynode in Rom wird im Oktober 2015 Fragen der Ehe, Familie und Sexualität beraten. Papst und Bischöfe haben zu Gesprächen darüber aufgerufen. In der Reihe Den Glauben neu denken und zur Sprache bringen hat der 33. Katholische Dialog dazu einen wichtigen Beitrag geleistet: Die theologische Ethikerin Regina Ammicht Quinn, Universität Tübingen, und der Dozent für Altes Testament Thomas Staubli, Universität Freiburg (Schweiz), forderten in ihren Thesen eine neue Ausrichtung der theologischen Anthropologie.
Regina Ammicht Quinn, Trägerin des Herbert-Haag-Preises 2015, wies auf die Tatsache hin, dass es in den Evangelien keine Aussage zu viel diskutierten Fragen von Ehe und Familie gibt. Es gebe nur das Verbot der Ehescheidung, das aber sehr viel mehr ein soziales denn ein sexuelles Verbot sei. Sie plädierte dafür, Moral wieder vermehrt zu thematisieren, doch nicht mit vielen Regeln, sondern indem Haltungen gestärkt werden. Sollen-Sätze gebe es eigentlich nur zwei: das Verbot von Gewaltanwendung und das Gebot der Achtung der Personenwürde. Die Moraltheologie müsse Modelle gelingenden Lebens aufzeigen, im eigentlichen Sinn eines Lebens mit Kindern und im übertragenen Sinn eines sozial fruchtbaren Lebens. In symbolischer Weise gelingen kann Leben natürlich auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
Thomas Staubli, Mitbegründer und Leiter des BIBEL+ORIENT Museums in Freiburg/CH, hob hervor, dass die Bibel im sogenannten Hohen Lied das Vermächtnis einer religiösen Tradition vermittelt, welche die erotische Liebe wertschätzt und integriert. Wenn der Mensch als Mann und Frau Gottes Ebenbild ist, dann müsse auch Gott in sich selbst die erotische Beziehungsfähigkeit beinhalten, die auf leidenschaftlichem Begehren beruht. So sei der biblische Gott selbst das Urbild sexuell differenzierter, sich begehrender Ebenbilder. Der biblische Mensch frage nicht in erster Linie nach sich selbst, sondern nach einem ihm entsprechenden Gegenüber, stellte Staubli fest.