In weiten Teilen Europas werden säkulare Staaten eher mit aufgeklärt und fortschrittlich, die Religionen hingegen mit fundamentalistisch und rückständig assoziiert. Dieser Filter verzerrt die Wahrnehmung. Es wird dabei nämlich übersehen, dass Judentum und Christentum wichtige Quellen der Aufklärung waren.
Mit Jacques Picard und Thomas Markus Meier blicken ein jüdischer und ein christlicher Fachmann in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um das aufklärerische Potential von Judentum und Christentum auszuloten und in Erinnerung zu rufen.
Wo wirkt in der säkularen Gesellschaft jüdisches und christliches Erbe weiter? Ist der Literaturnobelpreisträger Bob Dylan ein jüdisch-christlicher Prophet unserer Zeit? Haben diese Religionen heute noch ein aufklärerisches Potential? Zum Beispiel mit der Vision vom Reich Gottes jenseits von alten Kommunismen, neuen Faschismen (Türkei) und oligarchischen Dynastien (USA)?
Jacques Picard
Jacques Picard ist Ordinarius für Jüdische Geschichte und Kulturen der Moderne und Branco-Weiss-Professor für Kulturanthropologie an der Universität Basel. Von 2001 bis 2010 wirkte er als Leiter des Instituts für Jüdische Studien sowie 2007 bis 2010 als Forschungsdekan der Philosophisch-Historischen Fakultät, seit 2011 als Mitglied der Leitung des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie sowie des Zentrums Kulturelle Topografien der Universität Basel. Er war u.a. Mitglied der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg».
Wenn im Abendland, ausgehend von der Aufklärung, in einem tiefgreifenden Prozess ursprünglich religiös kultivierte Werte und Überzeugungen säkularisiert wurden, so stellt sich angesichts der Herausforderung der daraus hervorgehenden Innovationen auch die Frage nach den Charakteristika dieses Prozesses selber. Denn Prozesse sind nur erkennbar in ihrer Pfadabhängigkeit, bei dem es Anfänge, Knoten, Kreuzungen, Alternativen, Störungen, Hindernisse und Richtungsabweichungen gibt. Sich diesen Prozess nur als permanentes, gleichsam hegelianisches Fortschreiten vorzustellen, dürfte schon in historischer Perspektive ein Irrtum sein. So stellt sich die Frage, ob der säkulare Staat seine Autonomie im Zuge der philosophisch-politischen Aufklärung seit dem 17.-18. Jahrhundert hartnäckig und selbstständig errungen hat, dies oft in revolutionärer Abkehr und in Abwehr gegen Klerus, Kirche und religiösen Glauben. Oder ob, gleichzeitig und gegenteilig, der säkulare Staat und die Idee einer Scheidung zwischen politischer und religiöser Institution kulturgeschichtlich in Ideen des Judentums und Christentums selber fußt, etwa in einem in biblischen Schriften schon angelegten Dualismus wie er in der gegen weltliche Mächte (Könige) gerichteten Rede (Prophetie) erscheint und in rabbinischer bzw. jesuanischer Diktion (z.B. dem «Kaiser zu geben, was dem Kaiser zusteht, Gott aber, was Gott gebührt»; Mt 22,21) zu finden ist. Ist also die Religion das Problem, für das die Politik die Lösung brachte? Oder ist hier eine aufklärerische Skepsis gegenüber Macht und Dogmen durch die Religionen selber hervorbracht worden?
In der jüdischen Ideenwelt erscheint der Prozess der Säkularisierung als eine eigene, wirkmächtige Tradition. Eines der Charakteristika ist angelegt in der rabbinischen Exegese: dem Korpus der Schriftlichen Thora (dem sogenannten Alten Testament) wird die Mündliche Thora als Fortschreibung von Offenbarung durch deren Deutung zugesellt, ja auch gegenübergestellt. Durch die Mündliche Thora entsteht eine Vorstellung von Tradition, die als Kette der Überlieferung die Dynamik und Offenheit des Prozesses bezeugt. Dieser permanente Diskurs in der jeweiligen Gegenwart hat indes nicht eine stete Fortschreibung der antiken Bibel als Deutungskultur hervorgebracht, sondern sich in Gestalt von Maimonides während der Spätscholastik philosophisch ausformuliert und so emanzipiert. Noch viel entschiedener ist in der jüdischen Mystik der lurianischen Kabbala einerseits und dann der jüdischen Aufklärung, der Haskala anderseits der Prozess der Säkularisierung gleichsam radikalisiert worden. Mit Baruch Spinoza und Moses Mendelssohn sind unterschiedliche Modelle eines genuin jüdischen Säkularismus in die Moderne getreten, deren bürgerliche Lebensweise neuartige jüdische Traditionen begründen konnte, indem sie der Parusie entsagen: Jüdische Traditionen des Liberalismus wie ebenso des Konservativismus, die beide auf einem Modell der Gesellschaft beruhen, das kulturell den anthropozentrischen Pluralismus als Leitgedanken bevorzugt, indem das menschliche Individuum ins Zentrum der Gesellschaft gesetzt wird. Dieser Stoßrichtung stehen nochmals neuartige Versuche gegenüber, das geschichtliche Heil von neuem zu kol-lektivieren – in Gestalt des nationalen Zionismus und ebenso des transnationalen Sozialismus, die anfänglich eine enge Symbiose eingegangen sind und ihren gemeinsamen Nenner, den Säkularismus, implizit oder explizit aufrecht erhalten haben.
Heute erscheinen diese Voraussetzungen immer weniger gegeben zu sein und provozieren, wie überall in den durch Globalisierung berührten Gemeinschaften, Herausforderungen, die den Dialog wie ebenso Grenzziehungen erheischen.
Thomas Markus Meier
Studium der Theologie in Chur, Jerusalem und Luzern. Promotion in Tübingen («Dürrenmatt und der Zufall»). Neun Jahre tätig in der Pfarreiseelsorge, und dreizehn Jahre in der Erwachsenenbildung. Bis Ende letztes Jahr auch gelegentlich hörbar als Radioprediger auf SRF2Kultur. Führt einen Bibelblog auf facebook (Biblioblog) und bietet Führungen an durch seine umfangreiche Bibelsammlung.
Dieses Jahr wurde oft an Winston Churchills berühmte Zürcher Europarede erinnert. Dort bezeichnete er unseren Kontinent als «Wiege des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik». Auch Konrad Adenauer, Robert Schumann und Alcide De Gaspari erinnerten in ihren Grundsatzreden zur Vereinigung Europas immer wieder an sein christliches Fundament. Die damalige Berufung auf das historische Erbe des Christentums ist heute weitgehend abgelöst worden – im Zentrum stehen nun die Menschenwürde/Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit… Alles Werte, die sich aus dem Humanismus entwickelt haben, «der wiederum, was leicht vergessen wird, im Christentum als dem kulturellen Erbe Europas begründet ist.» (Lutz E. von Padberg)
Allein: Das Christentum ist weder in Europa geboren noch in Europa erst gross geworden. Es gilt die alte Feststellung Theodor Mommsens: «In der Entwicklung des Christentums spielt Afrika geradezu die erste Rolle; wenn dasselbe in Syrien entstanden ist, so ist es in und durch Afrika zur Weltreligion geworden.» Und hat auf diesem Weg erst Europa massgeblich geprägt. Die Aufklärung hingegen darf als ein Kind Europas bezeichnet werden (wenn auch andere Kulturen und Kontinente vergleichbare Geistesströmungen kennen).
Wie sieht nun der jüdisch-christliche Beitrag zur Aufklärung aus? Wenn Aufklärung auch als eine Art Reformbemühung verstanden werden kann, ist ein christlicher Einfluss wohl hüben wie drüben auszumachen: Bei Erneuern wie bei Bewahrern. Sicher wuchs die Aufklärung auch am Widerstand. Plakativ gesprochen speist sich Europas Erbe von Athen, Jerusalem und Rom. Wenn wir nun nach dem jüdisch-christlichen Einfluss forschen, können wir fragen, wie sähe Europa aus ohne Jerusalem. Oder anders gesagt, welche Grundströmung ist Jerusalem geschuldet? Und hier gibt es in der Tat wichtige Elemente, die mithalfen, ein Licht anzustecken. Das Weltbild nämlich der lateinischen Spätantike hat – langsam und unmerklich so zu sagen – Athen und Rom auf den Kopf gestellt. Nicht mehr der Kaiser wird automatisch vergöttlicht, sondern der Himmel steht nun allen offen. Andreas Merkt spricht von einer «virtuellen Egalisierung der Menschheit». Hinzu kommt eine Ethisierung/Moralisierung. Wie ich lebe, ist von Belang. Der Mensch ist nicht Spielball der Götter, sondern spielt aktiv mit, an der Veränderung/Verbesserung der Welt. Ein dritter Aspekt ist heute besonders spannend: Die Verkirchlichung des Lebens. Von der Wiege bis zur Bahre war das Leben bestimmt von religiösen, zumeist kirchlichen, Ritualen und Zeremonien. Dieses kirchliche Eingebettetsein ist heute nicht mehr selbstverständlich und nur ein Angebot unter vielen. Hier hat die konstantinische Wende gewissermassen ihr Ende. Was Kirchen vor grosse Herausforderungen stellt – oder einfach wegsehen lässt… Säkularismus als Herausforderung.
Aufklärerisches Potential im Judentum und im Christentum
Paul Jeannerat
Luzern, 21. November 2016
Aufklärerische Skepsis gegenüber Macht und Dogmen ist durch die Religionen selbst hervorgebracht worden und wirkt in der säkularisierten Gesellschaft von heute weiter. Neuzeitliche Errungenschaften wie die Allgemeinen Menschenrechte und die Idee einer Trennung von Kirche und Staat fussen kulturgeschichtlich im Judentum und Christentum selbst.
Beim 43. Dialog des Forums für Offene Katholizität, am 21. November 2016 im RomeroHaus Luzern, wurde das Jahresthema der Dialoge 2016/17 „Säkularismus als Herausforderung“ zugespitzt auf die Frage nach dem jüdisch-christlichen Beitrag zur Aufklärung. Mit Jacques Picard, (Kulturanthropologe, Universität Basel) und Thomas Markus Meier (Erwachsenenbildner, Obergösgen) stellten sich ein jüdischer und ein christlicher Fachmann der Aufgabe, das aufklärerische Potential von Judentum und Christentum herauszuarbeiten.
Jacques Picard erläuterte, im Judentum erscheine der Prozess der Säkularisierung als eine eigene, wirkmächtige Tradition: Der Schriftlichen Thora ist die Mündliche Thora als Fortschreibung von Offenbarung zugesellt, so dass diese als dynamischer und offener Prozess erscheint, der nie abgeschlossen ist. Mit Baruch Spinoza (17.Jh.) und Moses Mendelssohn (18.Jh.) sind Modelle eines genuin jüdischen Säkularismus in die Moderne getreten: Traditionen des Liberalismus wie ebenso des Konservatismus, die kulturell den anthropozentrischen Pluralismus als Leitgedanken bevorzugen. Sie setzen also das menschliche Individuum ins Zentrum der Gesellschaft. Dieser Stossrichtung stehen nochmals Versuche gegenüber, das geschichtliche Heil von neuem zu kollektivieren – in Gestalt des nationalen Zionismus und ebenso des transnationalen Sozialismus. Heute entstehen in den durch Globalisierung berührten Gemeinschaften neue Herausforderungen, die den Dialog wie ebenso Grenzziehungen erheischen.
Thomas Markus Meier verwies auf die Auseinandersetzungen in der Schweiz um sogenannte christliche Werte, die die Diskussion um die Herkunft von Errungenschaften wie Menschenwürde und Gleichwertigkeit, Freiheit und Demokratie, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit neu entfacht haben. Dabei wird gerne Winston Churchill zitiert, der Europa als „Wiege des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik“ bezeichnete. Meier betonte demgegenüber, dass das Christentum nicht in Europa entstand, sondern in Syrien geboren und in Afrika gross geworden ist. Die Aufklärung hingegen darf als ein Kind Europas bezeichnet werden.
In der aufklärerischen Epoche und im heute noch anhaltenden aufklärerischen Prozess ist ein christlicher Einfluss deutlich auszumachen. Die Vision vom Reiche Gottes, das Jesus verkündete und in seiner Person verkörperte, wirkt in aufklärerischer Weise weiter gegen alte Kommunismen, neue Faschismen (Türkei) und oligarchische Dynastien (USA). Das aufklärerische Potenial des Christentums lässt die Verkirchlichung des Lebens rapide abnehmen. Das Eingebettetsein der Menschen in kirchliche Rituale und Zeremonien verflüchtigt sich. „Hier hat die konstantinische Wende gewissermassen ihr Ende“, sagte Thomas Markus Meier, „und das stellt die Kirchen vor grosse Herausforderungen“.
Die Diskussion unter Leitung von Thomas Staubli (Dozent für Altes Testament an der Universität Freiburg) gab den beiden Referenten die Möglichkeit, einzelne Aussagen ihres Referates näher zu begründen. Jacques Picard tat dies, in dem er nach einer echt rabbinischer Tradition Geschichten erzählte. In der Schlussrunde wurde die Frage gestellt, was der heutzutage aufkommende Populismus für die aufklärerische Tradition bedeutet. Da bekannten sich beide Referenten zur Aussage, dass es an der Zeit ist, die Errungenschaften der Aufklärung mit geduldigem Einsatz und in kleinen Schritten zu verteidigen.