Dialog Nr. 55: Der Schriftsteller Adolf Muschg

Was mir heilig ist

Der Schriftsteller Adolf Muschg im Gespräch mit dem Theologen Christoph Gellner

am 11. Febuar 2019, 14:00-17:00 im Romerohaus, Luzern

«So hat die Aufklärung auf unserer Seite der Welt immer weniger christlichen Glauben übrig gelassen. Von der Heilsgeschichte sind nur ein paar Requisiten fürs Gemüt stehengeblieben, etwa die Krippe zu Bethlehem. Wie ein sinniges, aber auch sinnfrei gewordenes Andenken steht sie immer noch allein auf dem weiten Feld, das die Religion der Ratio räumen musste, der nachrechnenden Vernunft.» Drei Sätze aus einer unlängst publizierten Weihnachtsgeschichte von Adolf Muschg, die die Brisanz der Frage nach der Heiligkeit unterstreichen. Wo ist sie zu finden nach der Entzauberung der Welt durch die Aufklärung, in der die religiösen Requisiten wie museale Andenken herumstehen?

Adolf Muschg (*1934), geb. in Zürich, war nach Studien der Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und Cambridge/England und nach akademischen Stationen in Tokyo, Göttingen, Ithaca N.Y. und Genf 29 Jahre lang Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich bis zur Emeritierung 1999. 2003-2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin,  2010-2017  Senat der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mitgründer der «Gruppe Olten» (schweizerischer Autorinnen und Autoren), Mitglied der Akademien von Berlin, Mainz, Darmstadt, Hamburg und München. Sein Werk wurde durch zahlreiche Literaturpreise ausgezeichnet, zuletzt mit dem Internationalen Hermann Hesse-Preis, 2017

Christoph Gellner, (*1959), geb. in Karlsruhe studierte katholische Theologie in Tübingen (Promotion im Grenzgebiet Theologie-Literatatur-Religionswissenschaft). Er war in der katholischen Erwachsenenbildung der Diözese Rottenburg tätig, als Hochschulseelsorger in Zürich und von 2000-2015 als Leiter des Instituts für kirchliche Weiterbildung sowie des Theologischen Seminars Dritter Bildungsweg an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, und als Lehrbeauftragter für Theologie und Literatur, Ökumenische Theologie sowie Christentum und Weltreligionen. Seit 2015 leitet er das Theologisch-pastorale Bildungsinstitut der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) in Zürich.

Adolf Muschg zum Thema (Handout von Christoph Gellner)

«Zu meinem eigenen Erstaunen ist [Kinderhochzeit] immer mehr so etwas wie ein religiöser Roman geworden – mit allem Vorbehalt, mit dem die Kunst gegen diese Kategorie geimpft sein muss. Denn sie besteht auf ihrer ganz eigenen Frageform – und ist allergisch gegen unzweideutige Antworten. Aber auf das ‚Heilige‘ habe ich mich schon ein Stück zubewegt – auch wenn ich nicht weiss und wissen muss, was war, ist und sein wird. Aber das, was ohne unser Zutun immer schon da ist, sozusagen die Gegenwartsform des Heiligen, hat etwas mit Kunst zu tun.“ (Neue Zürcher Zeitung vom 11./12. Juli 2009)

„Ich habe die christliche Mystik über den Umweg Japan entdeckt. Der Zen-Buddhismus war meine befreiende Kraft.“ (Zürcher Tages-Anzeiger vom 3. März 2017)

„Meine Figuren meinen sich rechtfertigen zu müssen – sie kommen damit an kein Ende […] Ich möchte ihnen den Unglauben an sich selbst abgewöhnen. Für mich ist Rechtfertigung ein Wort des Teufels […] Warum muss ich etwas leisten, um geliebt zu sein? Ich möchte einmal nicht gut sein – sondern gut genug […] Die Liebe ist ihr eigener Grund. Wenn die Religion nicht ihr eigener Grund ist, dann kann ich mir keine Gründe verschaffen. Das ist protestantischer Aberglaube – hoffentlich macht es Gott keinen Eindruck.“ (Karl-Josef Kuschel: Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen, München/Zürich 1985)

„Gott versucht sein Spiel mit uns Er will wissen, ob wir als Mitspieler in Frage kommen, und diese Neugier Gottes ist der Stoff, aus dem unsere Erfahrungen sich machen; was für ein Glück, dass sie sich offenbar nicht machen wollen ohne uns. Wir dürfen Gottes Mitspieler sein, als ob es auf uns ankäme. In diesem Anschein steckt das ganze Wunder unseres Lebens.“ (Adolf Muschg, Der Rote Ritter, Roman 1993)

„Im Spiel zeigt sich, dass unser Leben keinen Grund braucht […] Es ist, wie ein Mystiker nach Wolframs Zeit gesagt hat: ‘sunder Warumbe’ […] Nur im Spiel empfinden wir uns der Schöpfung verwandt, deren Teil wir sind, und nehmen teil an dem Impuls, der sie geschaffen hat. Er darf grundlos gewesen sein und ohne Zweck“ (Adolf Muschg: Herr, was fehlt Euch? Frankfurt/M. 1994)

„Alle Dinge, die über uns sind, bedürfen einer Geschichte Auch wenn für die meisten von uns das Evangelium als Trost, Hilfe und Hintergrund nicht mehr zu Gebote steht, um gewissermaßen in Frieden sterben zu können, erzählen wir uns dennoch zu unserem Leben und Tod immer noch hartnäckig Geschichten. Wir brauchen sie offensichtlich und sie müssen etwas von uns ausdrücken, wir fühlen uns freier, wenn es ausgedrückt ist, als wenn es stumm bleibt. In diesem Sinne sehe ich die Arbeit des Schriftstellers überhaupt, er muss sich Geschichten zu einer Situation erfinden, die voller Urängste ist, auch voller Urfreuden.“ (Schweizer Radio DRS 2, 52 Beste Bücher vom 3. August 2003)

„Ich war fast mein ganzes Erwachsenenleben lang draussen. Das war ein Bekenntnisakt. Und paradoxerweise ist es jetzt wieder einer […] Es geht mir nicht einmal um die reformierte Kirche, sondern um den Status der Religionen in der Gesellschaft überhaupt. Heute ist das eine Minderheitenposition geworden, die Werte, die die Kirche transportiert, wenn sie dem Evangelium treu sein will, sind immer radikale, der Normalität entgegengesetzte, widernatürliche Werte gewesen wie die Feindesliebe […] Die Kirche, in die ich wiedereingetreten bin, ist unbequem, aber auch gnädiger als jede ökonomische Bilanz.» (Zürcher Tages-Anzeiger vom 3. März 2017)

„Das habe ich bei den Buddhisten gelernt, wie sehr das einzelne – und wenn es nur ein Bambusblatt ist – ein Ganzes repräsentiert. Das finde ich außerhalb der buddhistischen Kultur am ehesten bei Goethe: dass das Phänomen mehr gilt als die Idee.“ (Das Goetheanum Nr. 24 vom 13. Juni 2004)

Zur Vertiefung und zum Weiterlesen: Christoph Gellner, Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg, Zürich 2010.

 

Medienbericht (erschienen bei kath.ch)

Was mir heilig ist: Neue Aufmerksamkeit für Religion in der deutschen Literatur

Paul Jeannerat *

Luzern, RomeroHaus, 11. Februar 2019

Seit 10, 15 Jahren ist im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine neue Sensibilität für Religiös-Spirituelles zu beobachten. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg legt dafür Zeugnis ab. Als junger Dichter ist er aus der reformierten Kirche ausgetreten, jetzt, im Alter, ist er wieder eingetreten: aus Überzeugung. Adolf Muschg war Gesprächspartner beim FOK-Dialog vom 11. Februar 2019, im RomeroHaus Luzern.

In der Reihe 2018/2019 gehen die Dialoge des Forums für Offene Katholizität (FOK) der Frage nach, was uns eigentlich heilig ist. Gesprächspartner der Theologie sind dabei Persönlichkeiten aus der bildenden Kunst, Literatur, Musik und der Architektur. Beim Dialog Nr. 55, am letzten Montag, stellte sich der Schriftsteller Adolf Muschg den Fragen von etwa 50 Interessentinnen und Interessenten und des Experten Christoph Gellner, unter Leitung von Moderator Thomas Staubli.

Das Gespräch verlief ausserordentlich eindrücklich. Man spürte, wie Muschg sich in seinem literarischen Schaffen mit der religiösen Frage auseinandergesetzt hat: «Auf das ‘Heilige’ habe ich mich schon ein Stück zubewegt – auch wenn ich nicht weiss und wissen muss, was war, ist und sein wird». Dass einzelne seiner Werke als «so etwas wie ein religiöser Roman» empfunden werden, erstaunt ihn selbst: «Das, was ohne unser Zutun immer schon da ist, sozusagen die Gegenwartsform des Heiligen, hat etwas mit Kunst zu tun». Angesichts der Globalisierung der Weltwirtschaft und der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die unsere Welt in den Abgrund reitet, empfindet Muschg, dass die Werte der Religionen absolut existenziell nötig sind.

Christoph Gellner (Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) in Zürich) war als Muschgs Gesprächspartner bestens qualifiziert, hat er doch seine Dissertation auf dem Grenzgebiet von Theologie, Literatur- und Religionswissenschaft verfasst und ist Autor von «Westöstlicher Brückenschlag» (Theologischer Verlag Zürich, 2010), einer Auseinandersetzung über «Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg». Er legte eine Palette spezifischer Zitate vor, die aufzeigten, wie Muschg ringt um das Verständnis des Heiligen.

Den beiden Referenten wurde grosse Aufmerksamkeit zuteil. Man spürte förmlich das Mitgehen der Zuhörerschaft, das eigene Suchen nach dem, was uns heilig ist.

Das erfreuliche Fazit dieses Dialogs: In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur werden seit wenigen Jahren religiös-spirituelle Themen vermehrt bearbeitet. Es scheint, dass Ehrfurcht vor dem Heiligen neu erwacht ist und die Leistungen der Kirchen und der religiösen Menschen für die Gesellschaft wieder stärker gewichtet werden.

Dialog 56 bis 58

In der Reihe «Was mir heilig ist» sind noch zwei weitere FOK-Dialoge in Vorbereitung: Am Montag, 29. April 2019 stellt sich der Musiker und Komponist Peter Roth (u.a. «Toggenburger Messe») dem Gespräch mit der reformierten Pfarrerin und geistlichen Begleiterin Noa Zenger (14 Uhr, im RomeroHaus Luzern) und am Sonntag, 26. Mai 2019 begegnet der Architekt Gion A. Caminada (ETH Zürich) der Theologin Sonja Ammann (Professorin Altes Testament an der Universität Basel, im Zwinglihaus Basel).

Traditionsgemäss werden zum März-Dialog die PreisträgerInnen des «Herbert-Haag-Preises für Freiheit in der Kirche» zum Gespräch eingeladen. Am 25. März 2019 (14 Uhr, RomeroHaus) werden dies die LeiterInnen des Bunds der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und des schweizerischen katholischen Kinder- und Jugendverbands Jungwacht Blauring (JuBla) sein: Dirk Bingener, Thomas Andonie, Monika Elmiger, Regula Kuhn und Valentin Beck. Die beiden Organisationen erhalten den Preis für ihren Einsatz für die katholische Jugend «vom Betreuungsobjekt zum Glaubenssubjekt der Kirche».

*Paul Jeannerat ist Mitglied der Kerngruppe des Forums für Offene Katholizität (FOK).

 

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