Würdigung zum Abschluss des FOK von Erwin Koller

ERWIN KOLLER: EINE WÜRDIGUNG ZUM ABSCHLUSS DES FORUMS FÜR EINE OFFENE KATHOLIZITÄT

Liebe Referentinnen und Referenten – heutige und ehemalige Liebe Initiantinnen und Organisatoren aller FOK-Dialoge – heutige und ehemalige Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste!

Man hat mich gebeten, ein paar Worte zum FOK zu sagen –als einer, der bei der Entstehung dabei war und die ersten 40 Dialoge redigiert und fast immer moderiert hat. Auf das Risiko hin, dass es Ihnen spanisch vorkommt, verknüpfe ich meine Überlegungen mit Eindrücken von meiner kürzlichen Reise nach Kastilien: mit spanischen Impressionen also.

I.

Wenn man von Madrid nach Norden fährt, kommt man etwa 40 km vor Burgos in die kleine Stadt Lerma. Hier herrschte anfangs des 17. Jahrhunderts der Herzog Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, ein Enkel des Jesuitengenerals Francisco de Borja und ein führender Vertreter der Gegenreformation in Spanien.

Aussergewöhnlich an diesem kleinen Ort ist der grandiose Palast mit vielen Nebenbauten, die Francisco Gómez um einen grossen zentralen Platz herum erbauen liess. Absonderlich und schon fast kafkaesk jedoch ist ein architektonisches Gebilde, das den Ort prägt: der geschlossene Durchgang, der auf etwa fünf Metern Höhe über dem Erdboden vom Palast vorbei an Adelshäusern und Klöstern zum Konvent von San Blas führt. Er diente dazu, dass der Adel sich gegenseitig besuchen und zum Gottesdienst gehen konnte, ohne mit dem gemeinen Fussvolk in Berührung zu kommen.

Und so beiläufig erfährt man auch, dass sich der Herzog nach einem dubiosen Geschäft, das ungemütliche Folgen für ihn hatte, sich der weltlichen Gerichtsbarkeit dadurch entziehen konnte, dass er sich – dank guter Beziehungen zu König Philipp III., dessen Regent er war – zum Kardinal der römischen Kirche ernennen liess.

Ich bin mir nicht sicher, ob sich heutzutage schon alle Kardinäle von der dichotomen Vorstellung einer solch ungestörten klerikalen Sonderwelt verabschiedet haben. Die weltliche Gerichtsbarkeit jedenfalls meiden sie noch immer wie der Teufel das Weihwasser. Und als man Rainer Maria Woelki, dem Kardinal von Köln, einen Schuss vor den Bug geben wollte, hat man ihn, soviel mir bekannt ist, nur einfach gebeten, sich für einige Zeit in der geistlichen Wohlfühlzone auf jener oberen Etage einzurichten.

Wie gesagt, es ist unwahrscheinlich, dass diese kafkaeske Welt mehr als nur architektonisch verabschiedet worden ist. Ganz sicher aber bin ich, dass unsere katholischen Dialoge jener dichotomen Welt eine Absage erteilt und ihr diametral widersprochen haben. Wir ha-ben Theologie immer dialogisch verstanden, Aug in Aug mit der gesellschaftlichen Realität. Theologie ohne Dialog gibt es nicht. Was immer verlautbart und dogmatisch festgelegt ist, es muss sich im Dialog mit der Praxis ausweisen und bewähren und darum auch korrigieren lassen.

Weder Weihe noch Amt versetzen Menschen in einen höheren Stand, auch nicht auf eine höhere Stufe religiösen Bewusstseins oder eines irgendwie göttlich inspirierten Urteilsvermögens. So etwas zu postulieren, ist Menschen von heute so lächerlich wie der überirdische Gang von Lerma. Kirche ist das Volk Gottes auf Wanderschaft, alle gemeinsam haben sich in diese Pilgerschaft einzufügen. Von einer heiligen Herrschaft, einem sakralen Adel, hat Jesus nichts wissen wollen.

II.

Eine zweite spanische Impression. Im südlich gelegenen Zentrum Kastiliens liegt wie eine Festung die Stadt Ávila. Dort begegnet man der immer wieder überraschenden Teresa, deren jüdischer Vater zur Taufe gezwungen wurde. Und dem 27 Jahre jüngeren Juan de la Cruz, dessen Mutter eine verarmte und verachtete Muslimin war. Sie konnten beide mit den erstarrten Prägungen des Ordenslebens und den nur in lateinischer Sprache zugänglichen Gebetsformeln der offiziellen Kirche nichts anfangen. Sie richteten alles aus auf das innere Beten und auf ein Ordensleben in Armut und Bescheidenheit.

Wer in seinen Wurzeln eine andere Religion in sich trägt, kann den Kern seiner religiösen Ahnungen, das Feuer seines Glaubens nur dadurch hüten, dass sie oder er auch in der neuen Religion zum Kern vorstösst und ein Feuer entdeckt, das allen gemeinsam ist. Solo Dios basta! sagen Teresa und Juan. So schön die Oberflächen-Gewässer aller Bekenntnisse sind, spannend und auch berührend wird es erst, wenn man in der Tiefe zum Grundwasser vordringt. Darum ist Teresa eine Barfuss-Karmeliterin geworden und Juan ein Barfuss-Karmeliter. Juan haben es die Besserwisser im Orden mit Kerkerhaft schwer büssen lassen. Mystikerinnen und Mystiker standen seit je unter dogmatischem Generalverdacht.

Im nördlichen Kastilien begegnet man einer anderen Bewegung: dem Frankenweg nach Santiago de Compostela. Er ist nie ohne Menschen, die unterwegs sind. Pilger eben. Doch ich habe im ganzen Theologie-Studium nie gehört, wie eng die beiden zusammengehören: die Pilger und die Mystikerinnen. Der französische Kulturphilosoph, Soziologe und Historiker Michel de Certeau hat es auf Seite 487 seines Buchs «Mystische Fabel» (Berlin 2010) wunderbar auf den Begriff gebracht:

«Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern, und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiss: Das ist es nicht.»

Franziskus, der Bischof von Rom, verehrt seinen Ordensbruder als Lieblingsautor. Wenn er diesen Satz begriffen hat, hat er viel begriffen. Die Aussage ist eine katholische Revolution. Sie verbindet ganz tief innen die Mystikerin mit dem pilgernden Unterwegs-Sein.

Ich glaube, dass wir, die an den katholischen Dialogen gestrickt und mitgewirkt und teilgenommen haben, alle von diesem Geist beseelt waren, vom Wissen: das ist es nicht.

Alois Odermatt, der Historiker in unserer Runde, hat uns aus dem Wissen um die Weite der Katholizität immer wieder daran erinnert, dass die Geschichte der Kirche viel mehr an katholischer Glaubensvielfalt zum Ausdruck gebracht hat, als die Katholikalen uns vormachen wollen. Deren Verstand reicht ja meist nicht weiter als zum Ultramontanismus des 19. Jh. Katholizität aber ist der Gegenbegriff zu allem Sektiererischen. Ohne eine offene Katholizität gibt es keine Ökumene, keine interreligiöse Verständigung und keine religiös aufgeklärte Moderne. Eben, wie Michel de Certeau bekannte:

«Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern, und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiss: Das ist es nicht.»

III.

Eine dritte spanische Impression. In der altehrwürdigen Universität von Salamanca gibt es einen Hörsaal, den die Universität im Originalzustand des 16. Jh. beliess. Denn hier lehrte Fray Luis Ponce de León, auch er stammte aus einer Familie mit jüdischen Wurzeln, und León liegt ebenfalls am Jakobsweg.

1561 wird der Augustinermönch an der Universität von Salamanca Professor für Bibelwissenschaft, für die hebräische Bibel. Nach 10 Jahren Lehrtätigkeitwirft ihn die Inquisition in ihren Kerker von Valladolid, zusammen mit seinem Freund und Fakultätskollegen Gaspar de Grajal, ebenfalls Bibelwissenschaftler mit jüdischen Wurzeln, seine Mutter ist Muslimin.

Was wird den beiden vorgeworfen? Unter anderem Folgendes:

1. Sie hätten das Hohe Lied der Liebe aus dem hebräischen Original übersetzt und nicht aus der der lateinischen Vulgata des Hieronymus. Ihre Behauptung, diese Übersetzung sei mangelhaft, untergrabe deren Autorität.

Nur, das wird niemand bestreiten wollen.

2. Sie würden das Hohelied für ein erotisches Gedicht halten.

Ja, was denn sonst?

3. Sie würden bei ihrer Schriftauslegung jüdischen Kommentatoren den Vorzug geben gegenüber den Kirchenvätern.

Jüdische Kommentatoren stehen nun mal näher an der Sache!

4. Sie würden die These vertreten, dass im Alten Testament von der Unsterblichkeit der Seele oder von der Verheissung eines ewigen Lebens nach dem Tod keine Rede sei.

Nun ja, das ist halt so.

5. Und natürlich wird ihnen auch vorgeworfen, sie würden als christliche Professoren noch immer insgeheim ihre Studenten judaisieren wollen.

Das uralte Drama der diabolischen Inquisition: Zuerst zwingt sie alle zur Taufe, dann misstraut sie jedem Getauften und verfolgt ihn oder sie bis aufs Blut.

Gaspar de Grajal stirbt 1576 im Kerker, ein Jahr später wird er posthum von der Anklage freigesprochen. Fray Luis Ponce de León dagegen kehrt nach viereinhalb qualvollen Jahren an die Universität von Salamanca zurück.

Ich stand verschiedene Male in seinem Hörsaal, jedes Mal habe ich mich gefragt: Was hätte ich an seiner Stelle gesagt, nach diesen viereinhalb qualvollen Jahren? Oder darf ich die Frage an Sie weiterreichen: Was würden Sie an seiner Stelle sagen, nachdem die vermeintlichen Herren der Kirche Ihren Freund im Kerker neben Ihnen haben verrecken lassen?

Fray Luis Ponce de León kommt in seinen Hörsaal, besteigt das Katheder und beginnt seine Vorlesung mit dem berühmten Satz: «Ut dicebamus hesterna die – Wie ich gestern ausgeführt habe …» 5

So gefasst und unerschütterlich kann ein Mystiker sein. Unverbittert, frei von Gram und Hader, ganz und gar jenseits von Wut, Anklage und Resignation, nimmt er den Faden wieder auf, den man ihm aus den Händen gerissen hat, und spinnt ihn weiter.

Seine Gedichte hat man aus Angst vor der Inquisition erst 40 Jahre nach seinem Tod zu veröffentlichen gewagt. Sie gelten als Höhepunkt spanischer Lyrik.

Manchmal muss Theologie lange schweigen, auch das Schweigen des unbekannten Gottes aushalten, bevor sie sich wieder zu Wort meldet. Auch das gehört zu einem katholischen Dialog, der sich in eine ungewisse Zukunft vortastet.

Die spanische Mystik lebt von einem über Jahrhunderte erprobten Trialog der Religionen – trotz aller Grausamkeiten, die es fast immer auch gab –, vom Trialog zwischen der Kirche und der Moschee und der Synagoge. Die Herkunft der Mystikerinnen ist der beste Beweis dafür, auch wenn die Verbindungen meist im Unbewussten spielen.

Ich wage es, Ihnen etwas vom langen Atem der Mystikerinnen zuzumuten, etwas von der Gelassenheit dieses Fray Luis. Es könnte ja sein, dass Sie irgendwann vor einem Bischof stehen, der gerade zusieht, wie die Kirche vor seinen Augen implodiert. Dann müssten auch Sie sagen können: «Ut dicebamus hesterna die … – Wie wir dir gestern gesagt haben – und schon siebzig mal sieben Mal …»

*****

Schliessen aber möchte ich mit einem Lob auf die Freiwilligenarbeit. Alle Referentinnen und Referenten – mit Ausnahme der weit hergereisten – haben hier gesprochen, ohne ein Honorar zu bekommen. Alle in der Kerngruppe haben selbst ihre Spesen nirgends geltend gemacht. Nicht einmal nach Gottes Lohn haben sie gefragt. Ein Generationen übergreifendes Engagement. Auch das ist Kirche!

Ich hoffe, dass die nächste oder die übernächste Generation – wie Fray Luis Ponce de León – den Faden wieder aufnimmt und weiterspinnt.

Ich danke FOK. – Ich danke Ihnen.

Romerohaus Luzern, 9. Oktober 2021 Dr. Erwin Koller (erwin.koller@setarkos.com)

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