Die Katholischen Dialoge behandeln im Wintersemester 2013/14 Fragen der Theologie und der kirchlichen Praxis von ihren Rändern her. Darum erscheint es sinnvoll, mit dem Papst, der nach seinen eigenen Worten vom Ende der Welt geholt wurde, zu beginnen.
Wie verändert sich die Sicht auf Theologie und Kirche, wenn ein Lateinamerikaner Bischof von Rom ist, wenn nicht mehr die Theologie europäischer Universitäten und die kuriale Tradition eines höfischen Absolutismus massgebend sind, sondern Menschen, welche die Kehrseite unseres Wirtschaftssystems erfahren und seit Jahrhunderten in Abhängigkeit von Mächten leben, deren Prioritäten anderswo festgelegt werden?
Franz-Xaver Hiestand SJ, Leiter der katholischen Hochschulgemeinde Zürich (aki)
Er ist Superior der Jesuitengemeinschaft am Hirschengraben und war für längere Studienaufenthalte in Lateinamerika.
- Mit Jorge Mario Bergoglio wurde ein viel-gesichtiger Mensch und ein Jesuit alter Schule zum Papst gewählt.
- Das Wirken von Jorge Mario Bergoglio als Bischof und Kardinal war geprägt von seinen pastoralen Erfahrungen in den argentinischen Metropolen Buenos Aires und Cordoba. Er kennt die Lebensbedingungen der einfachen Leute und der kirchlichen Mitarbeitenden, welche sich in diesen Lebenswelten engagieren.
- Indem Jorge Mario Bergoglio zum Bischof von Rom und zum Papst gewählt wurde, sind auch die Vitalität und Zärtlichkeit, die Unmittelbarkeit, die Rauheiten und Konflikte von lateinamerikanischen, urbanen Regionen an die Spitze der Weltkirche gelangt. Wie sich diese Entwicklung auf den päpstlichen Regierungsstil und auf seine lehramtliche Tätigkeit auswirkt, bleibt zurzeit grösstenteils noch offen.
Als Hintergrund zu diesen Thesen zwei Zitate:
„Wie wild es der Papst wirklich treiben wird, ist nicht abzusehen. Sicher ist nur: Er lebt gefährlich. Gegenüber einer Delegation von Ordensleuten aus Lateinamerika hat er unumwunden eingestanden, dass Korruption und Seilschaften Homosexueller im Innersten des Vatikans alles andere sind als krankhafte Ausgeburten sensationslüsterner Medien. Ebenso unumwunden gestand er ein, noch nicht zu wissen, wie mit diesen Kräften umzugehen sei.“
(Daniel Deckers: Wild und gefährlich. In: FAZ vom 20.6.2013 )
„Während Papst Wojtyla mit aussergewöhnlicher Bravour mit den Massen zu kommunizieren verstand, versteht es Papst Bergoglio, die einzelnen Individuen zu erobern. Während er den Menschenmassen begegnet, schaut er nicht auf das Ganze, sondern sucht immer den Kontakt zu Einzelnen: ein Blick, eine Geste mit dem einen oder anderen Menschen, dem er auf seinem Weg begegnet. Und wenn das auch für wenige zutrifft, wissen alle, dass ihnen das auch passieren könnte. Papst Franziskus hat die Fähigkeit, sich jeden zum Nächsten zu machen.“
(Sandro Magister: The Hundred Days of Francis and the Enigma of the Empty Chair.
In: www.chiesa.espressonline.it vom 24.6.2013
Renold Blank, Prof. emer. der Päpstlichen Theologischen Fakultät von São Paulo
- Als lateinamerikanischer Kleriker ist auch Franziskus geprägt durch den spezifisch lateinamerikanischen Kontext einer geschwisterlichen Kirche.
Fünf Schwerpunkte prägen diese Kirche:
- Sie optiert für die Armen.
- Sie ergreift Partei.
- Sie dient.
- Sie investiert in die theologische Weiterbildung der Laien (Protagonismus der Laien)
- Sie ist eine Kirche der Freude und Hoffnung.
- Da die lateinamerikanische-Befreiungstheologie als kontextueller Hintergrund die ganze lateinamerikanische-Kirche prägt, ist auch Papst Franziskus von ihr geprägt.
- Die Befreiungstheologie ist nicht eine fix geprägte Grösse, sondern eine dynamische und höchst facettenreiche Hintergrund-Theologie, die sich konzentriert auf das Reich Gottes und die Grundoptionen Jesu.
- Franziskus fordert nach den Kriterien des Reiches Gottes strukturelle Reformen in der Kirche. Seine Option für die Armen bleibt nicht auf der traditionellen Ebene karitativer Mildtätigkeit stehen; sie kritisiert den Neoliberalismus und verlangt im Namen der Gerechtigkeit strukturelle Reformen im Wirtschaftssystem.
- Diese Perspektiven dürften in Zukunft auch in Europa zu zentralen Themen der Evangelisierung werden und das falsche Verständnis von Befreiungstheologie korrigieren.
- Unter dem Einfluss der Befreiungstheologie entstand in Lateinamerika eine ‚andere Art des Kirche-Seins‘, die Franziskus zeichenhaft lebt. Gemäss den ‚Imitations-Mechanismen‘, die in jedem hierarchischen System wirksam sind, wird sie auch in Europa zu Veränderungen führen…
- zu einer Kirche, die den Menschen dient (geschwisterliche Kirche der Communio – Teilnahme),
- zu einer Kirche, die selber arm wird und von der Basis her lebt,
- zu einer Kirche mit mehr Barmherzigkeit und weniger Legalismus,
- zu einer Kirche, in der es möglich wird, Probleme offen anzusprechen – bei kirchlich-rechtlichen Fragen wie Zölibat und Frauenordination eher als bei dogmatischen wie z.B. Ehescheidung. „Evangelisierung setzt in der Kirche kühne Redefreiheit voraus“ (Rede vor Konklave),
- zu einer Kirche mit weniger Zentralismus und mehr Autonomie der Lokalkirchen, so wie es in Lateinamerika gehandhabt wird.
Medienmitteilung: Franziskus – ein lateinamerikanischer Jesuit als Papst
Katholischer Dialog zur kirchlichen Praxis von den Rändern her
Paul Jeannerat – 21.Oktober 2013 (Kipa)
Indem Jorge Mario Bergoglio, der Bischof von Buenos Aires, zum Papst gewählt wurde, ist auch der spezifisch lateinamerikanische Kontext einer geschwisterlichen Kirche an die Spitze der Weltkirche gelangt. Gemäss den Imitations-Mechanismen, die in hierarchischen Systemen wie der Kirche wirksam sind, wird die lateinamerikanische Befreiungstheologie, von der Papst Franziskus geprägt ist, auch in der Kirche Europas zu Veränderungen führen. Wie genau sich dies auf den päpstlichen Regierungsstil und auf seine lehramtliche Tätigkeit auswirkt, bleibt zurzeit noch offen.
So das Fazit des 23. Katholischen Dialogs vom 21.Oktober 2013 im RomeroHaus Luzern. Die Katholischen Dialoge behandeln im Bildungsjahr 2013/14 Fragen der Theologie und der kirchlichen Praxis „von ihren Rändern her“, gemäss dem philosophischen Dictum, dass sich der Inhalt vom Rande her bestimmt (definiert). Es erschien darum sinnvoll, mit dem Papst, der nach eigenen Worten vom Ende der Welt geholt wurde, zu beginnen. Dazu lud das Forum für offene Katholizität (FOK), das den Zyklus der Katholischen Dialoge zum fünften Mal verantwortet, zwei kompetente Experten zu thesenbezogenen Kurzreferaten ein: Franz-Xaver Hiestand SJ, Superior der zürcherischen Jesuitengemeinschaft, der für längere Studienaufenthalte in Mexiko war, und Prof. Renold Blank, emeritierter Professor der Päpstlichen Theologischen Fakultät von Sâo Paolo.
Pater Hiestand bezeichnete Jorge Mario Bergoglio als ein viel-gesichtiger Mensch, der sich – entsprechend seinem Wahlspruch als Bischof – seiner Grenzen („Ich bin ein Sünder …“) und seiner Stärken („…den der Herr angeschaut hat“) bewusst ist. Er ist ein Jesuit alter Schule, mit einer klassischen Ausbildung, mit Erfahrung im Ordensleben und in der Ordensleitung. Er ist zudem vertraut mit der pastoralen Situation in den argentinischen Metropolen Buenos Aires und Cordoba. Er kennt die Lebensbedingungen der einfachen Leute und der kirchlichen Mitarbeitenden, welche sich in diesen Lebenswelten engagieren. Mit ihm sind auch „die Vitalität und Zärtlichkeit, die Unmittelbarkeit, die Rauheiten und Konflikte“ von lateinamerikanischen urbanen Regionen an die Spitze der Weltkirche gelangt. Eine abgehobene, universitäre Art des Papsttums, welche durch Benedikt VI. repräsentiert wurde, ist gebrochen und durch Volksnähe und spontane Herzlichkeit ersetzt. Es gibt Indizien, dass er die Orthopraxie vor die Orthodoxie stellt. Dies alles führt bereits zu Spannungen zwischen Papst und Kurie.
Prof. Blank betonte, dass Papst Franziskus von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie geprägt ist, also von einer dynamischen und höchst facettenreichen Hintergrund-Theologie, die sich konzentriert auf das Reich Gottes und die Grundoptionen Jesu. Daraus geht eine andere Art des Kirche-Seins hervor, eine Kirche, die den Menschen dient, selber arm ist, mehr Barmherzigkeit und weniger Legalismus übt, eine Kirche mit weniger Zentralismus und mehr Autonomie der Lokalkirchen. Diese Entwicklung wird bereits zeichenhaft sichtbar in bestimmten Gesten und Entschlüssen des Papstes. Seine Option für die Armen bleibt nicht auf der Ebene karitativer Mildtätigkeit stehen, sondern verlangt im Namen der Gerechtigkeit strukturelle Reformen im Wirtschaftssystem. Diese Perspektiven dürften in Zukunft auch in Europa zu zentralen Themen der Evangelisierung werden.
Beide Referenten liessen die Frage offen, wie sich die Tatsache, dass mit Papst Franziskus ein Mensch vom Ende der Welt ins Zentrum der Weltkirche gerufen wurde, langfristig auswirken wird. In der Diskussion, geleitet von Erwin Koller, wurde deutlich, dass mit Papst Franziskus eine neue Art, das Amt des Papstes auszuüben, angebahnt werden könnte. Sicher ist: Eine Kirche, die den Menschen dient, hat im Papst, der vom Ende der Welt gekommen ist, neuen Schwung erhalten. Der Franziskus-Effekt darf weder überschätzt noch unterschätzt werden.