Mit deutlichem Mehr hat sich das Schweizer Stimmvolk 2015 dafür ausgesprochen, dass auch hierzulande nicht nur Pränataldiagnostik, sondern auch Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt sein soll. Bei der Pränataldiagnostik geht es um die Frage der Akzeptanz eines gegebenen Embryos. Bei der PID geht es hingegen um eine Auswahl (Selektion) aus mehreren Embryonen. Potentielle Menschen werden plötzlich zu Gegenständen. In beiden Fällen geht es um Krankheits- und Behindertendiagnostik. Damit aber auch um die Frage, was krank ist und was nicht. Während der Ausschluss einer Glasknochenkrankheit weitgehende Zustimmung findet, ist das bei Trisomie 21 viel fraglicher. Gegen den Volksbeschluss wurde das Referendum eingereicht.
Die Möglichkeit der Invitrofertilisation verändert nicht nur das Verständnis der Elternschaft grundlegend, deren vornehmeste Aufgabe es bisher war, sich des geschenkten Lebens im Kinde anzunehmen. Es stellt sich auch die Frage der (Un)Verfügbarkeit des Lebens. Neue Formen der Eugenik provozieren, wie Elodie, die 2005 in Belgien in vitro gezeugt wurde, um aus ihr später Knochenmark zur Rettung ihres Bruders gewinnen zu können. Schwerwiegende Fragen fordern uns heraus: Werden dank des Chromosomen-Checks Behinderte künftig als vermeidbare Risiken geächtet? Dürfen sich Gehörlose ein ebenfalls gehörloses Kind wünschen? Darf uns die Medizin ungefragt vor ständig neue Entscheidungsdilemmata stellen? Hat die Theologie zu diesen Fragen noch etwas zu sagen?
Monika Bobbert
Professorin für Theologische Ethik/Sozialethik, Leiterin des Instituts für Sozialethik der Theologischen Fakultät der Universität Luzern; zuvor Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg; Arbeitsschwerpunkte: Grundlagen der Ethik, Sozialethik, Medizin- und Pflegeethik, Moralpsychologie.
- Die Grenze zwischen «schwerer Krankheit», Krankheit und unerwünschtem Merkmal lässt sich nicht ziehen. Weder eine «Indikationenliste» noch die Wünsche und Nöte potentieller Eltern lassen sich rechtfertigen.
- Die Auswahl von Embryonen erfolgt nach von Gesellschaft und Paaren gesetzten Merkmalen. Es handelt sich um Diskriminierung, da bei der PID nicht alle Embryonen die gleichen Chancen haben.
- Belastungen und «Unzumutbarkeit» lassen sich nicht eindeutig vorhersagen. Ein Paar kann im Voraus schwerlich antizipieren, wie es ihm und dem künftigen Kind gehen wird. Das «Behinderungsparadox» zeigt, dass Ängste und Vorurteile nicht den Erfahrungen von Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit entsprechen. Die Freiheit von Paaren, eine informierte und freie Entscheidung zu treffen, ist eingeschränkt.
- Die PID kann «eng» nur bei Paaren mit einer familiären Erberkrankung erlaubt sein oder «weit» auch bei jedem Paar, das auf Grund der Diagnose «unerfüllter Kinderwunsch» den Weg der künstlichen Befruchtung (IVF) geht (Schweiz ca. 2000/Jahr). Die PID im Rahmen jeder künstlichen Befruchtung stellt eine «Qualitätsprüfung» von Nachkommenschaft dar.
- Die PID ersetzt die PND und damit verbundene Spätabbrüche nicht: Nach einer PID wird routinemäßig eine PND durchgeführt. Zudem ist die PND aus ethischer Sicht auch problematisch. Eine Problematik lässt sich gegen eine andere ethische Problematik ausspielen.
- PND und PID unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: Die PND führt zu einem Schwangerschaftskonflikt zwischen Frau und Kind innerhalb einer gewünschten Schwangerschaft. Die PID wird gesellschaftlich geregelt: Außenstehende setzen inhaltliche Kriterien, in welchen Fällen eine PID erlaubt wird.
- Die PID macht die Herstellung von Embryonen zum Zweck des Verwerfens erforderlich. Damit ist die Selbstzwecklichkeit von Embryonen fraglich.
- Jeder von uns führt sein Dasein und Sosein auf einen unverfügbaren Anfang zurück und daher rührt unsere Freiheit. Durch PID verändert sich Elternschaft. Wenn Paare das So-Sein künftiger Kinder bestimmen, tritt ein neues Element von Kontrolle und Macht in die Eltern-Kind-Beziehung.
PID = Präimplantationsdiagnostik, IVF = Invitrofertilisation, PND = Pränataldiagnostik
Christian Kind
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, speziell Neonatologie. Ehem. Chefarzt Pädiatrie am Kinderspital St. Gallen. Wissensch. Schwerpunkte: Epidemiologie vertikal übertragener Infektionen, insb. HIV-Infektion; pränatale Diagnostik, Forschung mit Kindern. Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Präsident der ev.-ref. Kirchgemeinde St. Gallen C.
Elternschaft steht in der Spannung zwischen dem Wunsch nach Verwirklichung eigener Ziele und Träume und der Aufgabe, den Kindern eine Entwicklung in Freiheit und eine eigenständige Suche nach Lebenssinn zu ermöglichen.
- Das Bedürfnis von Eltern und Gesellschaft, die Folgegeneration nach den eigenen Bedürfnissen zu formen, kann heute mit neuen Methoden befriedigt werden
- Für seine gesunde Entwicklung braucht ein Kind Freiraum und das Gefühl des grundsätzlich bedingungslosen Angenommenseins durch die Eltern und die Gemeinschaft. Für ihre friedliche und nachhaltige Entwicklung braucht die Gemeinschaft die Solidarität und Kooperation einer kreativen Vielfalt unterschiedlichster Mitglieder.
Die zunehmenden technischen Möglichkeiten und kommerziell betriebenen Programme, die Geburt von Kindern mit bestimmten Merkmalen zu verhindern (paradigmatisches Beispiel Trisomie 21) stellt eine Bedrohung für einzelne Menschen und die Gesellschaft als Ganzes dar: a) Bedrohung des Sicherheits- und Selbstwertgefühls von Trägern unerwünschter Merkmale; b) grundsätzliche Infragestellung des Konzepts der bedingungslosen Elternliebe; c) Gefährdung der gesellschaftlichen Bereitschaft, Verschiedenheit zu akzeptieren und zu schätzen.
Diese Bedrohungen verwirklichen sich zurzeit in der rasanten qualitativen und quantitativen Entwicklung der pränatalen Diagnostik. Assistierte Fortpflanzung und PID spielen dabei eine marginale Rolle. Der postulierte moralische Unterschied zwischen Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik erscheint aus Sicht der Praxis höchst fragwürdig. Die Ablehnung der Revision des Fortpflanzungsmedizingesetzes würde an der oben beschriebenen Bedrohung überhaupt nichts ändern.
Die Revision des Fortpflanzungsmedizingesetzes ist zwar bei weitem nicht ohne Mängel, sie ermöglicht aber drei wichtige Verbesserungen:
- Für Paare mit hohem genetischem Risiko ist PID in der Schweiz möglich.
- In ausgewählten Fällen kann die Erfolgschance der assistierten Fortpflanzung durch das Chromosomenscreening erhöht werden.
- Die in der Schweiz sehr hohe Mehrlingsrate kann durch die Ermöglichung des Single Embryo Transfers gesenkt werden.
Die Abwehr der beschriebenen Bedrohung durch generelle Verbote ist kein geeigneter Weg. Nötig wären einerseits eine Verbesserung der Qualitätssicherung der assistierten Reproduktion und andererseits vor allem ein Kulturwandel in der Gesellschaft.
Würden mehr Menschen Verschiedenheit als Bereicherung erleben, die Geburt eines Kindes mit einer Behinderung als herausforderndes Geschenk annehmen und nicht als unbedingt zu vermeidenden Schicksalsschlag ansehen, würden Werte wie Offenheit, Hilfsbereitschaft und Liebesfähigkeit ebenso hoch geschätzt wie Intelligenz, Leistungsbereitschaft und Funktionstüchtigkeit, dann könnte die Bedrohung durch die vorgeburtliche Selektion viel von ihrer Bedeutung verlieren. Hier sollte sich die Kirche vielleicht noch vermehrt einsetzen.
Medienmitteilung: Auch Kinder mit einer Behinderung sind ein Geschenk
Paul Jeannerat / 18. Januar 2016
Durch Pränataldiagnostik (PND) und durch Präimplantationsdiagnostik (PID) verändert sich Elternschaft: Wenn Paare das So-Sein künftiger Kinder bestimmen, entsteht ein neues Element von Kontrolle und Macht in der Eltern-Kind-Beziehung. PND und PID sind somit ethisch problematisch.
Doch Verbote sind kein geeigneter Weg zur Steuerung der Bedrohung durch zunehmende technische Möglichkeiten der Assistierten Fortpflanzungsmedizin, es bräuchte vielmehr einen Kulturwandel in der Gesellschaft: Würden Werte wie Offenheit, Hilfsbereitschaft und Liebesfähigkeit ebenso hoch geschätzt wie Intelligenz, Leistungsbereitschaft und Funktionstüchtigkeit, würde die Bedrohung durch vorgeburtliche Selektion viel von ihrer Bedeutung verlieren.
Notwendig wäre eine Kultur, in der zu potentiellen Eltern gesagt wird: „Ihr dürft ein Kind annehmen, das behindert ist, und wir helfen euch!“ Diese Thesen vertraten Monika Bobbert, Professorin für theologische Ethik/Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, und Christian Kind, Facharzt für Neonatogie am Kinderspital St. Gallen und Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, anlässlich des 38. Dialogs des Forums für offene Katholizität, am 18. Januar 2016 im RomeroHaus Luzern. Der Dialog war überschrieben mit der Frage: Kinder nach Design oder als Geschenk?
Erhöhte Aktualität erhielt die Thematik durch eine am 30.Dezember 2015 veröffentlichte Mitteilung der Bundeskanzlei, wonach das Referendum gegen das Fortpflanzungsmedizingesetz, das vom Schweizer Stimmvolk am 14.Juni 2015 mit 61,4 Prozent der Stimmen angenommen wurde, zu Stande gekommen sei und deshalb darüber eine neue Volksabstimmung stattfinden müsse.
Als erste legte Monika Bobbert ihre Thesen dar: Weder PND noch PID liessen sich ethisch rechtfertigen, erklärte sie. PND führe zu einem Konflikt zwischen Frau und Kind innerhalb einer gewünschten Schwangerschaft. PID mache die Herstellung von Embryonen zum Zweck des Verwerfens erforderlich, zudem würden Aussenstehende inhaltliche Kriterien setzen, in welchen Fällen eine PID erlaubt ist. Entstanden aus den Wunsch, Erbkrankheiten zu vermeiden, eröffneten sich durch PND und durch PID medizinische Möglichkeiten, Kinder „nach Wunsch“ zu „produzieren“ Die Grenze zwischen ‚schwerer Krankheit’, Krankheit und unerwünschtem Merkmal liesse sich nicht ziehen und Wünsche der Eltern nicht rechtfertigen.
Demgegenüber wies Christian Kind darauf hin, dass das Bedürfnis von Eltern und Gesellschaft, die Folgegeneration nach den eigenen Bedürfnissen zu formen, so alt ist wie die Menschheit (gelenkte Paarverbindungen, Infantizid, Erziehung). Neu seien heute nicht die Ziele, sondern die Methoden, direkt auf genetische Merkmale einzuwirken. Neu und bedrohlich würden zunehmend technische Möglichkeiten und besonders kommerziell betriebene Programme erscheinen, die Geburt von Kindern mit bestimmten Merkmalen zu verhindern. Die pränatale Diagnostik entwickle sich quantitativ und qualitativ rasant, kein Verbot würde diese Entwicklung verunmöglichen. Statt Verbote müsse einerseits eine Verbesserung der Qualitätssicherung der assistierten Reproduktion und andererseits vor allem ein Kulturwandel angestrebt werden: Würde Verschiedenheit als Bereicherung erlebt und würde die Geburt eines Kindes mit einer Behinderung als herauforderndes Geschenk angenommen und nicht als unbedingt zu vermeidender Schicksalsschlag angesehen, dann könne die Bedrohung durch die vorgeburtliche Selektion viel von ihrer Bedeutung verlieren. „Hier sollte sich die Kirche vielleicht noch vermehrt einsetzen“ (Christian Kind).
Moderiert wurde das Gespräch von Thomas Staubli, Dozent für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.