Das Aufkommen kontextueller Theologien in aller Welt bedeutet für die angestammte abendländische Tradition zuerst einmal einfach die Tatsache, dass sie nicht mehr die einzige Art und der alleinige Traditionsstrang des Theologietreibens ist.
Wirkliche Interkulturalität ist keine Einbahnstrasse und beinhaltet deshalb zwei wesentliche Aspekte: Einerseits geht es um ein Kennen- und Schätzenlernen der Anderen, sei es eine Person, eine Kultur oder eine Theologie. Andererseits aber geht es auch darum, sich selber im Anderen spiegeln und in Frage stellen zu lassen. Die Postmoderne betont vor allem den ersten Aspekt, hütet sich aber vor dem zweiten.
Theologie auf interkulturelle Art und Weise zu treiben, schliesst beide Aspekte ein. Und dies bedingt die Bereitschaft, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, bei dem die eigene Position und das theologische Selbstverständnis, die nach wie vor eurozentrisch sind, ins Wanken geraten können und vielleicht revidiert werden müssen. Es gilt die Herausforderungen auszuloten, welche die kontextuellen Theologien des Südens und das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen für die europäisch-abendländischen Theologien und Kirchen darstellen.
Der Dialog wird moderiert vom Theologen und Journalisten Erwin Koller, Begründer der Sternstunden des Schweizer Fernsehens.
Josef Estermann, Philosoph und Theologe, Leiter des RomeroHauses
Er lehrte vor allem in Peru und Bolivien und leitete verschiedene missionswissenschaftliche Institutionen. Die interkulturelle Theologie ist einer seiner Schwerpunkte.
- Das Gravitationszentrum des heutigen Christentums liegt im (armen) Süden, jenes der Theologie aber nach wie vor im (reichen) Norden.
Bis in die 1970er Jahre lebten die meisten Christinnen im soziologischen Norden (USA, Kanada, Europa, Australien). Dies hat sich in den letzten fünfzig Jahren entscheidend verändert; heute leben zwei Drittel der Christinnen (und noch mehr, wenn man nur die Katholikinnen im Blick hat) im soziologischen Süden (Lateinamerika, Afrika, Süd- und Südostasien). Andererseits bleibt die akademische Theologie weitgehend im soziologischen Norden und betreibt weiterhin einen theologischen Neokolonialismus (soziologisch, weil es nicht einfach um den geografischen Süden, bzw. Norden geht; es gibt zum Beispiel auch einen soziologischen Süden im geografischen Norden).
- Trotz Befreiungstheologie und kontextuellen Theologien aus dem Süden besteht die europäische Theologie nach wie vor auf ihrem Universalitätsanspruch.
Seit den 1960er Jahren sind im soziologischen Süden viele so genannte kontextuelle Theologien (lateinamerikanische Befreiungstheologie; Black Theology; Latino Theologie, Mujerista Theologie; Wasserbüffel-Theologie; Minjung-Theologie usw.) entstanden. Die an den Akademien und Priesterseminaren in aller Welt gelehrte eurozentrische und auf westliche Denkkategorien zentrierte Theologie versteht sich aber nach wie vor nicht als kontextuell. Dies ist nochmals verstärkt worden durch die Dogmatisierung der hellenistischen Philosophie durch Benedikt XVI.
- Interkulturelle Theologie hat eine zweifache Aufgabe: Kritik an kulturellen und ideologischen Zentrismen und Aufbau einer polyzentrischen Theologie im weltweiten Dialog.
Die interkulturelle Dekonstruktion eurozentrischer Theologie bedeutet im Ansatz einen Prozess der Enthellenisierung im soziologischen Norden, und der Entkolonialisierung im soziologischen Süden. Jede Theologie, mag sie noch so universalistisch daherkommen, ist historisch und kulturell kontextuell verfasst, sowie in Gender-Perspektive Männer-zentriert oder aber Gender-sensibel. Schafft es die akademische und lehramtliche Theologie nicht, ihrer Zentrierung auf westliches Denken zu entrinnen, bedeutet die Krise der abendländischen Zivilisation auch eine umfassende Krise des Christentums und der Kirche.
Gerda Hauck, Dr. phil., Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin
Sie ist Präsidentin des “Hauses der Religionen” in Bern und war Beauftragte für Migrationsfragen bei Caritas Bern und Leiterin der Koordinationsstelle Integration der Stadt Bern.
Was bedeutet das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen hier in der Schweiz für die europäisch-abendländischen Theologien und Kirchen?
- Im Zentrum lebendiger Interkulturalität steht der Dialog auf Augenhöhe.
Soll der Dialog gelingen, müssen verschiedene Voraussetzungen gegeben sein: Die miteinander Sprechenden müssen sich auf Augenhöhe begegnen. Der Dialog kommt nur zustande, wenn ich nicht belehren will, sondern wenn ich a) hören und b) mich dem Gegenüber verständlich machen will.
- Das Minimal-Ergebnis eines dialogischen Zusammenlebens könnte die ‚gegenseitige Lesbarkeit‘ sein.
Das allein würde das Zusammenleben schon erleichtern, weil es die Angst vor dem Unbekannten nehmen und optimaler Weise auch Vorurteile gegenseitig abbauen würde. Die Herausforderung heute ist aber, den Frieden zu wahren und zu stärken.
- Vom interkulturellen Zusammenleben können die ‚europäisch-abendländischen Theologien‘ nur profitieren, wenn sie lernbereit sind.
Theologie hat ein dialogisches Grundproblem. Denn sie will, wenn ich es richtig verstehe, lehren und erklären. Theologie wäre also eine Top-Down-Herangehensweise und aus meiner Sicht allenfalls im akademischen Kontext dazu geeignet, etwas zur gegenseitigen Lesbarkeit beizutragen.
- Für das interkulturelle Zusammenleben fruchtbar ist der ‚Dialog des Lebens‘.
Die Erfahrung im Projekt Haus der Religionen ist, dass durch den Dialog des Lebens ein Brückenschlag stattfinden kann zwischen Menschen, zwischen unterschiedlichen religiösen Positionen, zwischen gesellschaftlichen Vorstellungen von richtig und falsch etc. Die vorgängige Frage ist allerdings: Will ich mich durch den Dialog des Lebens verändern lassen? Wer nur in Beziehung treten will mit anderen Menschen, um sich und seine Weltsicht bestätigen zu lassen, wird die Brücke nicht beschreiten.
- Der ‚Dialog des Lebens‘ konfrontiert, stellt in Frage, verändert und stärkt gleichzeitig die eigene Identität. Das ist auch der gesellschaftspolitische Auftrag des Hauses der Religionen in Bern.
Mit anderen Worten: Aus der Alltagsnähe heraus entstehen Situationen und Anforderungen, die nicht abstrakt-akademisch, sondern nur in der gegenseitigen Verständigung und im Aushandlungsprozess angegangen werden können. Das Haus der Religionen in Bern mit acht Religionsgemeinschaften, die unter einem Dach gemeinsam einen Betrieb verantworten, ist ein Setting, in dem modellhaft der Dialog des Lebens stattfindet; darin einbezogen sind ausdrücklich auch Menschen, die sich als nicht-religiös bezeichnen.
Medienmitteilung: Interkultureller Dialog ‚auf Augenhöhe‘ verändert uns
Paul Jeannerat / 29.4.14 (Kipa)
Zwei Drittel der christlichen Weltbevölkerung leben heute in der südlichen Hemisphäre, doch der Mainstream der christlichen Theologie ist immer noch abendländisch geprägt. Das Aufkommen kontextueller Theologien des Südens erfordert, dass sich die von der alt-griechischen Philosophie dominierte westliche Theologie zu Gunsten einer globalen Sichtweise verändern lässt.
Gleichzeitig wird die abendländische Gesellschaft zunehmend durchmischt von Einflüssen nicht-christlicher Religionen und Kulturen, denn es leben immer mehr Menschen aus fernen Ländern in der hiesigen Gesellschaft. Multikulturalität und Multireligiosität sind tägliche Erfahrungen, die verändern.
So stehen die Kirchen und die Gesellschaften des Abendlandes vor parallelen Herausforderungen. Nur die Bereitschaft zum Dialog auf Augenhöhe vermag in der Kirche weltweit die Einheit in der Vielfalt zu garantieren und in der Gesellschaft das Zusammenleben human zu gestalten und den (Religions-) Frieden zu wahren und zu stärken.
So lässt sich das Ergebnis des 27. Katholischen Dialogs zusammenfassen, der am Montag, 28. April, im RomeroHaus Luzern zum Thema Interkulturelle Theologie und Eurozentrismus stattfand.
Aufbau einer polyzentrischen Theologie
Josef Estermann, Bildungsleiter des RomeroHauses Luzern, formulierte Thesen auf dem Hintergrund seiner Lehrtätigkeit in Peru und Bolivien. Dort hat er die kontextuellen Theologien Lateinamerikas kennen und schätzen gelernt. Er hat erfahren, dass die abendländische, griechisch geprägte Theologie nicht mehr in die andern Kontinente exportiert und dort als allgemein gültig dargestellt werden darf.
Es müsse darum gehen, die kontextuellen Theologien anderer Kontinente und anderer Kulturen als gültig zu akzeptieren und auch sich von ihnen beeinflussen zu lassen. Theologie auf interkulturelle Art und Weise zu betreiben, werde das europäische theologische Selbstverständnis ins Wanken bringen, betonte Estermann: «Schafft es die akademische und lehramtliche Theologie nicht, ihrer Zentrierung auf westliches Denken zu entrinnen, droht eine umfassende Krise des Christentums und der Kirche».
Interkulturelles Zusammenleben verändert Theologie
Auch Gerda Hauck argumentierte auf dem Hintergrund ihrer Tätigkeit – der früheren als Integrationsbeauftragte der Stadt Bern und der heutigen als Präsidentin des Vereins Haus der Religionen – Dialog der Kulturen in Bern. Das Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und Eingewanderten werde in Zukunft nur gelingen, wenn der Dialog gelinge, und der Dialog gelinge nur, wenn er auf Augenhöhe stattfinde, wenn die Würde aller anerkannt werde, wenn gegenseitige Lernbereitschaft und Bereitschaft zu Veränderungen bestehe. «Wer nur in Beziehung treten will mit anderen Menschen, um sich und seine Weltsicht bestätigen zu lassen, wird die Brücke nicht beschreiten», sagte Gerda Hauck. So wird auch die europäische Theologie vom interkulturellen Zusammenleben nur profitieren, wenn sie lernbereit ist.
In der von Alois Odermatt geleiteten Diskussion wurde unter anderem daran erinnert, dass sich der Missionsbegriff der katholischen Kirche von Belehrung und Bekehrung zu Austausch und Dialog verschoben hat. Für Missionszwecke bestimmte Gelder müssten nicht nur in die Länder des Südens fliessen, sondern auch dem Dialog unter den Religionen bei uns zur Verfügung stehen.
Hinweis: Verein Haus der Religionen – Dialog der Kulturen
In Bern als Bundeshauptstadt und als Bewahrerin eines Unesco-Welterbes wird der interkulturelle und interreligiöse Austausch engagiert gepflegt. Seit Jahren veranstalten acht Religionsgemeinschaften gemeinsam kulturelle, religiöse, pädagogische und soziale Programme. Seit 2002 besteht der Verein Haus der Religionen – Dialog der Kulturen. Zur Zeit steht im Westen von Bern, am Europaplatz, ein Kompetenzzentrum multikultureller und interreligiöser Art im Bau: das Haus der Religionen mit speziellen Räumen für Aleviten, Baha’i, Buddhisten, christliche Kirchen, Hindus, Muslime, jüdische Gemeinde, Sikh sowie mit gemeinsamen Räumen für den Interreligiösen Dialog. Am 14. Dezember 2014 soll es eröffnet werden.