Fragebögen des Vatikans, die in der Folge in Umlauf kamen, wurden allerdings als unverständlich empfunden und fanden nur eine geringe Verbreitung. An diesem Punkt setzte ein Forschungsprojekt dreier Studierender der Theologie und der Sozialwissenschaften an. Sie erstellten einen alternativen, verständlicheren Fragebogen in sieben Sprachen. Die Resonanz überstieg mit über 12 000 Teilnehmenden aus über 40 Ländern die Erwartungen und zeigte, dass es möglich ist, den Stimmen der Gläubigen im synodalen Prozess Gehör zu verschaffen.
Konkret ging es um die Fragen: Welche Bedeutung messen die Befragten Kirche und Glaube im Ehe- und Familienleben zu? Was sind die größten Kritikpunkte? Und wie werden sie begründet? Welche Veränderungen wünschen sich die Befragten? Dabei kommen die Themen «Probeweises» Zusammenleben vor der Ehe, Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, (Wahl-)Zölibat, Diakonat der Frau, sowie seelsorgerliche Unterstützung von Ehepaaren und Familien zur Sprache. Fasst man die Ergebnisse zusammen, fällt die Spannung zwischen grundsätzlicher Verbundenheit mit Kirche und Glaube einerseits und deutlich kritisch-distanzierter Auseinandersetzung mit Teilen der kirchlichen Lehre andererseits auf.
Ziel des Dialoges mit den von der Herbert-Haag-Stiftung ausgezeichneten Autoren der Studie und weiteren Fachkundigen ist es, die Umfrageergebnisse im Hinblick auf die Zukunft der Kirche zu vertiefen. Welches könnten oder sollten die nächsten Schritte in der Ehe- und Familienpastoral sein? Wie sieht die wünschenswerte Kommunikation zwischen Kirchenvolk und Kirchenleitung in der Zukunft aus?
Sarah Delere, Anna und Tobias Roth
Studierende der Theologie und der Sozialwissenschaften in Berlin und Münster; Herbert-Haag-PreisträgerInnen 2016
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Stephanie Klein
Professorin für Pastoraltheologie, Universität Luzern
Rückmeldung: Das Besondere an der Umfrage ist, dass sie nicht von lehramtlichen Fragen, sondern von zentralen Fragen der Menschen bezüglich der kirchlichen Ehe- und Familienlehre ausgeht. Die Ergebnisse stimmen weithin mit der Befragung der Schweizer Kirche Ende 2013 überein. Die Umfrage fokussiert auf zentrale Punkte: Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen; Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften; Zusammenleben vor der Ehe; Zölibat; Diakonat der Frau; Dialog in der Kirche.
Anfragen: Die Umfrage erfasste (ebenso wie die römische Umfrage) offenbar vorwiegend gemeindenahe aktive Christinnen und Christen. Es stellt sich die Frage, wie auch Christinnen und Christen, die in nur loser Anbindung oder ohne Anbindung an die institutionelle Kirche leben, mit in den Dialog einbezogen werden können.
Fortführungen: Die Diskurse der Synode stellen die Fragen nach Ehe und Familie auf der pastoralpraktischen Ebene und versuchen sie – notfalls mit dem Hinweis auf die Barmherzigkeit – auf dieser Ebene zu bewältigen. Solange sie nicht auch zu einer theologischen Diskussion und Weiterentwicklung des Sakramentenverständnisses und des Kirchenrechts führen, wird die Kluft zwischen lehramtlichen Aussagen und dem gelebten Leben bestehen bleiben.
Es gibt durchaus Möglichkeiten, die alten lehramtlichen Traditionen theologisch weiterzuentwickeln. Dies wäre möglich z.B. durch:
– die weitere Entfaltung der Ehetheologie als Beziehungstheologie
– das Verständnis der Familienmitglieder und -beziehungen primär von der Tauftheologie her statt der ausschließlichen theologischen Ableitung der Familie aus der Ehetheologie.
Alois Odermatt
Historiker, Theologe, ehem. Leiter des Pastoralsoziologischen Instituts und ehem. Geschäftsführer der Römisch-katholischen Zentralkonferenz
- Der Projektbericht nennt diese Befragung eine «neue Form des Hörens»:
- «Das Forschungsprojekt zeigt das große Potenzial einer systematischen Befragung von Gläubigen, die als neue Form des Hörens bezeichnet werden kann.»
- «Die Ergebnisse der Studie zeigen den Wunsch der Gläubigen nach dialogischem Austausch. Die TN […] wünschen sich, dass ihre Lebenswirklichkeit ernst genommen wird.»
- Nun haben sich bereits mehrere Methoden des pastoralen Hörens entfaltet:
- Die Forderung, die Gegenwart prophetisch als Anruf zu verstehen, führte seit den 1920er Jahren zum Programmwort «Zeichen der Zeit». Das Konzil ging darauf ein (GS). In PO 9 betont es die «eigenen Gaben der Laien» bei der Deutung der Zeichen.
- Die Methode «Sehen – Urteilen – Handeln» nach Joseph Cardijn (1882-1967) bewährte sich und wurde zum Modell für nachkonziliare Vorgänge: Medellín 1968, Puebla 1979. Johannes Paul II, Bischof von Rom, lehnte sie 1992 in Santo Domingo scharf ab.
- Franziskus, heutiger Bischof von Rom, wendet diese Form des Hörens wieder an, gerade auch für die Bischofssynoden 2014 und 2015 zu Ehe und Familie.
- Wie äußert sich in diesem Vorgehen eine «neue Form des Hörens»?
- Welche neuen Aspekte hat diese Methode, den Spürsinn der Gläubigen zu erheben? Wie gelingt der «dialogische Austausch»?
- Kommt das «Lehramt der Getauften» vermehrt zum Tragen?
- Wie haben die Forschenden selber diese Neuheit erfahren? Welche Rolle spielt das Klima, das Bischof Franziskus verbreitet? Ist ein Wandel im Gang?
Medienmitteilung: Der «Sensus fidelium» als Quelle der Wahrheit
Paul Jeannerat / 14. März 2016
«Fragt die Gläubigen!» Mit diesen Worten forderte Papst Franziskus – im Vorfeld der Bischofssynode 2014/15 zu Fragen von Ehe- und Familienpastoral – die Bischöfe, die Theologinnen und Theologen auf, dem Volk den Puls zu fühlen. Damit gab er den Impuls zu einer neuen Methode, einer neuen Form des Hörens, um den Glaubensinstinkt der Gläubigen in die Verkündigung des Lehramtes einfliessen zu lassen. Dieses theologische Neuland war Thema des 39. Dialogs des Forums für offene Katholizität (FOK) am 14. März 2016 im RomeroHaus Luzern.
Dem Aufruf des Papstes folgend versuchte der Vatikan selbst das Volk Gottes zu befragen, allerdings mit bescheidenem Erfolg: Die Fragebögen wurden als unverständlich empfunden und darum wenig verbreitet. An diesem Punkt setzte ein Forschungsprojekt dreier Studierender der Theologie und der Sozialwissenschaften aus Münster i.W. an. Sie erstellten einen alternativen, verständlicheren Fragebogen in sieben Sprachen und verbreiten diesen in 12 Ländern. Über 12400 Antworten gingen ein, eine nie erwartete Anzahl, die klar bewies, dass es möglich ist, den Stimmen der Gläubigen im synodalen Prozess Gehör zu verschaffen.
Die drei Studierenden Sarah Delere, Anna Roth und Tobias Roth waren Gast am 39. Dialog des Forums für offene Katholizität (FOK). Am Vorabend hatten sie im Haus der Religionen in Bern eine Anerkennung der Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche erhalten.
Ziel ihrer Forschung war es, anhand der vatikanischen Umfrage, aber in leicht verständlicher Sprache, sowohl mit Papierfragebögen als auch mit einer Online-Befragung die Beteiligungsmöglichkeiten zu erweitern. Sie erhielten Rückmeldungen aus insgesamt 42 Ländern. Alle Alters- und Sozialgruppen waren vertreten, überwiegend kirchlich aktive Katholikinnen und Katholiken.
Als zentrale Ergebnisse orteten die Studierenden Spannungen zwischen grundsätzlicher Verbundenheit mit Kirche und Glaube einerseits und deutlich kritisch-distanzierte Auseinandersetzung mit Teilen der kirchlichen Lehre andererseits. Dabei wurde auch festgestellt, dass Lehrmeinungen der offiziellen Kirche in Fragen von Ehe und Familie für viele an der Umfrage Teilnehmende völlig irrelevant sind. Deutlich war den Rückmeldungen das Desiderat nach Berücksichtigung spezifischer kultureller Kontexte (voreheliche Beziehungen sind in einzelnen Kulturen eine Selbstverständlichkeit, in andern Kontexten eine Sünde). Stark wurde auch der Wunsch nach Gradualität in der kirchlichen Lehre (sog. „Hierarchie der Wahrheiten“) betont und festgehalten, dass im konkreten Leben Ideal und Wirklichkeit oft auseinanderklaffen.
Die Methode und die Ergebnisse der Forschungsarbeit der Studierenden wurden kritisch beurteilt von Stephanie Klein, Professorin für Pastoraltheologie an der Universität Luzern. Sie wies darauf hin, dass sich die Umfrage auf zentrale Punkte fokussiere: Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Zusammenleben vor der Ehe, Zölibat, Diakonat der Frau. Sie bemängelte, dass vorwiegend gemeindenahe aktive Christinnen und Christen erfasst wurden, und stellte die Frage, wie auch kirchenferne Menschen einbezogen werden könnten. Sie zeigte auch auf, dass durchaus Möglichkeiten bestehen, die alten lehramtlichen Traditionen theologisch weiter zu entwickeln, zum Beispiel die weitere Entfaltung der Ehetheologie als Beziehungstheologie.
Alois Odermatt, Historiker und Theologe, beurteilte die von den drei Studierenden angewandte Methode aus historischer Sicht: Das Zweite Vatikanische Konzil führte das Programmwort „die Zeiten der Zeit verstehen“ in die Theologie ein und betonte die „eigenen Gaben der Laien“ bei der Deutung der Zeichen. Die nachkonziliären Kirchenversammlungen von Medellin (1968) und Puebla (1979) benutzten erfolgreich das Modell „Sehen – Urteilen – Handeln“. Papst Franziskus führte nun das Modell „Fragt die Gläubigen“ ein, was im Projektbericht als neue Form des Hörens“ bezeichnet wird, die „den Wunsch der Gläubigen nach dialogischem Austausch“ und nach stärkerem „Ernstgenommenwerden ihrer Lebenswirklichkeit“ stark zum Ausdruck zu bringen vermag.
Das Feuer der Begeisterung, das die drei Studierenden ausstrahlten, ging auf die etwa 40 Teilnehmenden über und führte zu einer regen Diskussion. Viele von ihnen hatten in ihrer Judgendzeit die Ausbruchstimmung, die Papst Johannes XIII. anfachte, miterlebt. Jetzt spürten sie wiederum, wie der gegenwärtige Bischof von Rom mit frischem Wind auch Jugendliche von heute begeistern kann.