Während für die einen die Religionen die eigentlichen Grundübel heutiger Gewaltspiralen sind, sind sie für andere die Quelle einer Haltung der Gewaltlosigkeit. Was steckt wirklich in den Religionen? Gibt es das Heilige ohne Gewalt? Worauf kommt es im Umgang mit dem religiösen Erbe an? Und nicht zuletzt: Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den Religionen in der Gewaltfrage? Christen, die im Namen Jesu zu Gewalt aufrufen, verraten Christus — trotzdem haben es viele getan. «Anders die Moslems: Wenn sie religiös motivierte Gewalt üben, folgen sie dem Gründer ihrer Religion, der zum Töten aufgerufen hat. Angehörige dieser Religion haben es deshalb zweifellos schwerer, anzuerkennen, was mit der Aufklärung durchgesetzt wurde: das Gewaltmonopol des Staates» (Martin Grichting, Generalvikar in Chur, im «Blick» nach dem Anschlag in Brüssel). Grichting erhält Zuspruch unter Verweis auf die Christenverfolgung, die im Namen des islamischen Extremismus im Gang sei. «Nach allen Erfahrungen mit dem Islam in den letzten Jahrzehnten, haben die meisten einfach genug von den ständigen Bagatellisierungen der Gefahr durch Gutmenschennaivität», heißt es in einem Kommentar und ein anderer meint, dass die Muslime aufschreien bei islamkritischen Karikaturen, sich angesichts der Terrorakte aber in ohrenbetäubendes Schweigen hüllten. Der Anschlag auf christliche Familien auf einem Spielplatz in Lahore (Pakistan) hat die asymmetrische Wahrnehmung noch verschärft.
Was bedeuten diese Entwicklungen für das christliche Zeugnis? Und was bedeuten sie für die Integration der Muslime in unserem Land?
Richard Friedli
Professor i.R.; 1966-71: Entwicklungsethik an der National Universität Rwanda; 1971-92: interkulturelle Theologie und 1992-2006 Religionssoziologie an der Universität Fribourg; 2009-13: akademischer Leiter der World Peace Academy (Universität Basel). Seit 2013: Konsulent im «Culture and Religion in Mediation»–Team an der ETH Zürich.
Perspektiven
1. Symptome : Gewaltpotenzial in den Religionen
Auf der Weltkarte der „Geographie des Zornes” sind die Orte der Gewalt eingezeichnet, wo Religionen involviert sind: Die „Militia Christi“ von Opus Dei gegen befreiungstheologisch motivierte kirchliche Gemeinden in Lateinamerika, orthodoxe jüdische Haredim im modernen Israel, buddhistische Mönche gegen die muslimischen Rohingya in Burma/Myanmar, die hinduistische „Armee Shivas“ gegen Christen und Muslime in Indien, djihadistische Boko-Haram Anhänger gegen moderate Muslime und Christen im Nordosten Nigerias oder magisch gesteuerte Mai-Mai Milizen in Zentral- und Ostafrika. Diese religiös legitimierten Gewalttätigkeiten haben oft terroristische Komponenten.
2. Diagnose: religiöse Ursachen
Gewalt wird jeweils durch den Bezug auf „das Heilige“ religiös gerechtfertigt und radikalisiert. Diese tiefenkulturellen „letztgültigen Referenzen“ wirken sich ambivalent aus — je nach den sozio-politischen Kontexten: entweder konstruktiv verbindend oder destruktiv zerstörerisch. Und sie werden oft sowohl von Tätern wie auch von Opfern wegen wirtschaftlichen, demographischen oder nationalistischen Interessen angerufen, instrumentalisiert und radikalisiert.
3. Therapie: Religionen und Gewalt-Transformation
Sind die menschlichen Grundbedürfnisse — die Basic Human Needs (BHN) — erfüllt, fallen die Gewaltursachen weg oder bieten meistens keinen direkten Nährboden für Gewalt. Zu den BHN gehören vor allem: ganzheitliches Überleben, menschliche Sicherheit, persönliche und soziale Identität, umfassende Gesundheit und Hoffnungshorizonte. Durch die Referenz zum „Heiligen“ erhält dieses Engagement seine unbedingte Motivation. Der fundamentale Bezug nimmt zwar je nach der jeweiligen kulturellen und spirituellen Tradition lokal verschiedene Namen an — Brahman, Buddha, Himmelreich, Christus, Allah, Compassion, Menschenwürde —, global ist aber der verbindliche Teststand ihre Kompetenz, in religionsübergreifender Diapraxis zu kooperieren
Hansjörg Schmid
PD für christliche Sozialethik; Studien in Freiburg i.Br. und Jerusalem; 2002-2010 Leiter des Referats Interreligiöser Dialog an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart; seit 2015 Lehr- und Forschungsrat für Theologische Sozialethik an der Universität Fribourg und Leiter des «Schweizer Zentrums für Islam und Gesellschaft»
Islam und Gewalt
- Gewalt als Hauptthema von Islamdebatten: Islamdebatten sind häufig abgrenzend, generalisierend sowie gefahren- und verbotsorientiert. Gewalt ist neben dem Verhältnis von Mann und Frau sowie dem von Religion und Staat eines der zentralen Themen von Islamdebatten. Vielfach werden diese jedoch der Komplexität und Interaktion von religiösen, kulturellen, politischen und sozialen Faktoren sowie der Vielfalt muslimischer Positionen nicht ausreichend gerecht. Gegendiskurse, die Möglichkeiten diskursiver Klärung und friedensfördernde Potentiale des Islams in den Vordergrund stellen, befinden sich gegenüber den dominanten Diskursen in einer Rechtfertigungsposition und finden nur schwer Gehör.
- Legitimation von Gewalt als hermeneutisches Problem: Die Aussagen des Korans zu Gewalt und Gewaltverzicht sind heterogen und widersprüchlich. Sie stehen in vielfältigen literarischen und historischen Zusammenhängen. Text und Realität, Schrift und Applikation sind nicht automatisch kongruent. Daher kommt der Koraninterpretation eine entscheidende Rolle zu, um Legitimierungen von Gewalt durch den Koran zu widerlegen. Ungeachtet eines unterschiedlichen Offenbarungsverständnisses stehen muslimische und christliche Schriftauslegung vor vergleichbaren hermeneutischen Schwierigkeiten. In Anknüpfung an den Koran wird jihad teils als Krieg (zu Verteidigungszwecken), teils aber auch als ethische Anstrengung gedeutet. Zeitgenössische muslimische Denker überwinden die Gegenüberstellung von „Haus des Islams“ und „Haus des Krieges“ und entwickeln pluralismusfähige Islamverständnisse.
- Muslime in der Schweiz zwischen Gewaltdistanzierung und Radikalisierungsverdacht: Muslime in der Schweiz stehen vielfach unter Rechtfertigungsdruck. Die muslimischen Dachorganisationen haben mehrfach und mit grosser Klarheit nach Terroranschlägen mit muslimischen Motivationen Stellung bezogen und sich klar von solchen gewaltsamen Akten distanziert. Die muslimischen Verbände sind ebenso wie die grosse Mehrheit der Gesellschaft besorgt wegen gewaltaffinen Muslimen, die etwa nach Syrien ausreisen, um am globalen jihad mitzuwirken („Terrorist travellors“). Die Motive für solche Individuen sind komplex: Frustration, psychische Probleme, Exklusions-, Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen sensibilisieren für vermeintlich eindeutige religiöse Sinnangebote. Massnahmen der Gewaltprävention müssen daher auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen und idealerweise partnerschaftlich mit muslimischen Verbänden erfolgen. Die Integration und Anerkennung des Islams erweisen sich dabei als zentrale Beiträge zur Gewaltprävention.
Medienmitteilung: „Streitet auf eine gute Art“
Paul Jeannerat / 18. April 2016
Mit diesem Wort aus dem Koran wurde der 40. Dialog des Forums für offene Katholizität über „Das Heilige und die Gewalt“ auf den Punkt gebracht. Religiös begründete Gewalt gab es zu allen Zeiten, und alle Religionen sind davon betroffen. Entwicklung aller Menschen hin zu Sicherheit, persönlicher und sozialer Identität und Hoffnunghorizonten entzieht der religiös begründeten Gewalt ihren Nährboden. Integration und Anerkennung von Andersgläubigen sind zentrale Beiträge zur Prävention religiöser Gewalt. Dies waren die Hauptaussagen der beiden Referenten Richard Friedli und Hansjörg Schmid.
Das Forum für offene Katholizität (FOK) stellt in den fünf Dialogen des Bildungsjahres 2015-2016 prophetische Einwürfe zu gesellschaftlichen Brennpunkten vor. Am 18. April 2016 zur Frage:„Gibt es das Heilige ohne Gewalt?“
Richard Friedli vermochte aus seinen Erfahrungen als Dozent für Entwicklungsethik an der Nationalen Universität Rwanda und als Professor für interkulturelle Theologie an der Universität Freiburg/Schweiz zu schöpfen. Er ortete Gewaltpotential in allen Religionen: im Christentum, Judentum, Buddhismus, Islam und in Naturreligionen, sowie in allen Weltgegenden: Lateinamerika, Israel, Burma, Indien, Nigeria, Zentralafrika. Aber auch konstruktives Friedenshandeln dort, wo sich die Religionen durch die Referenz zum „Heiligen“ für umfassende Gerechtigkeit einsetzen, und nicht nur den Dialog pflegen, sondern in religionsübergreifender Diapraxis kooperieren. Wo die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigt sind, fallen Gewaltursachen zunehmend weg. Umfassende Gerechtigkeit für alle Menschen ist Voraussetzung für weltweiten Frieden.
Hansjörg Schmid, Co-Leiter des „Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft“ an der Universität Freiburg, zeigte auf, wie zurzeit Gewalt das Hauptthema von Islamdebatten ist und Frieden fördernde Potentiale des Islam nur schwer Gehör finden. Zur Legitimierung von Gewalt im Koran und in der Bibel betonte er: „Ungeachtet eines unterschiedlichen Offenbarungsverständnisses stehen muslimische und christliche Schriftauslegung vor vergleichbaren hermeneutischen Schwierigkeiten.“ Im Christentum wie im Islam kommt darum der Interpretation der heiligen Schriften eine entscheidende Rolle zu, um Legitimierung von Gewalt durch den Koran und die Bibel zu widerlegen. Massnahmen der Gewaltprävention müssen idealerweise partnerschaftlich mit muslimischen Verbänden erfolgen, denn „Integration des Islam erweist sich als zentraler Beitrag zur Gewaltprävention“.
Rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten diese Thesen mit viel persönlichem Engagement. Moderiert wurde die Veranstaltung von Thomas Staubli, Dozent für Altes Testament an der Universität Freiburg (Schweiz).