Wie soll der säkulare Staat mit religiösen Zeichen umgehen? Mit welchen Symbolen dürfen oder sollen Religionsgemeinschaften an die Öffentlichkeit treten? Der religionspolitische Disput rund ums Kruzifix wird auch in der Schweiz von Fall zu Fall leidenschaftlich geführt. Die Pluralisierung der religiösen Landschaft stellt einerseits die Selbstverständlichkeit christlicher Symbole in Frage. Die Political Correctness fordert anderseits die strikte Abstinenz des Staates in Sachen Religion und leitet daraus die Pflicht ab, in staatlichen Gebäuden, Institutionen und Publikationen sowie in der Öffentlichkeit auf religiöse Symbole grundsätzlich zu verzichten.
Wie ist dies aus rechtlicher Sicht zu bewerten? Ist die republikanisch-laizistische Position das Mass aller Dinge? Welche Argumente ergeben sich aus der Notwendigkeit, über grundlegende Werte einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen? Welche Positionen ergeben sich aus einer reflektierten Theologie der Öffentlichkeit? Dazu legen alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay und der Pastoraltheologe Michael Felder ihre Thesen vor.
Giusep Nay, alt Bundesgerichtspräsident
- Die Invocatio Dei in der Bundesverfassung ist richtig. Der säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht gewährleisten kann (Böckenförde). Die Werte, die der Glaube einer grossen Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger vermittelt, darf und soll der Staat daher hochhalten.
- In der staatlichen Schule darf ein Kreuz oder Kruzifix angebracht werden. Da der Staat auf die christlichen Werthaltungen seiner Bürgerinnen und Bürger baut und bauen muss, darf und soll er den Unterricht in der staatlichen Schule, unter gebührender Rücksichtnahme auf Schülerinnen und Schüler anderer Religionszugehörigkeit, auf eine christliche Grundlage stellen. Ein Kreuz oder Kruzifix wahrt die Neutralität des Staates und verletzt die Religionsfreiheit nicht, solange es allein Ausdruck dieser Grundlage der Mehrheitsgesellschaft ist.
- Religiöse Symbole, auch nichtchristliche, sind in der Öffentlichkeit grundsätzlich zulässig. Das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt nicht davor, mit anderen religiösen Auffassungen und Symbolen als jenen der eigenen Religion oder Weltanschauung konfrontiert zu werden.
Michael Felder, Professor für Pastoraltheologie an der Universität Freiburg / CH
- Das Kreuz ist ein Symbol, das auf einen lebendigen Interpretationsraum angewiesen ist. Es kann nicht auf seinen historischen Verwendungszusammenhang (Kreuzzüge etc.) reduziert werden. Seine Interpretation hängt von der Hermeneutik gelebter Glaubensvollzüge ab.
- Das Kreuz im öffentlichen Raum signalisiert, dass sich die Gesellschaft nicht als säkular in dem Sinne versteht, dass sie ihre religiösen Wurzeln komplett abgeschnitten hat. Dem Vorwurf des Islams, der westliche Religionsverlust sei ein menschlicher Würdeverlust, ist damit die Basis entzogen. Das Kreuz steht dafür, dass die Gesellschaft Religion und religiöse Menschen ernst nimmt und dass sie in dieser Gesellschaft ihren Platz haben.
- Das Kreuz ist kein Besetzungszeichen, das die religiöse Kultur anderer okkupiert. Es ist kein Ausrufezeichen dafür, die einzige Wahrheit in Sinn- und Lebensfragen zu besitzen. Es ist vielmehr auch Fragezeichen angesichts gefährlicher Plausibilitäten des etablierten Politik-, Wirtschafts- und Kulturbetriebs. Das Kreuz stellt heilsame Fragen, die das menschliche Miteinander aller betreffen.
Medienmitteilung: Religiöse Symbole im säkularen Umfeld
Von Paul Jeannerat / Luzern, 21. März 2011 (KIPA)
Religiöse Symbole, christliche wie nichtchristliche, sind in der Öffentlichkeit grundsätzlich zulässig. Auch in einem säkularen Staat verletzt ein Kreuz in öffentlichen Gebäuden die Religionsfreiheit nicht, solange es Ausdruck des Glaubens einer Mehrheit der Bevölkerung ist. Allerdings ist das Kreuz als religiöses Symbol auf einen lebendigen Interpretationsraum angewiesen und bedarf stets erneuerter Deutung. Der Streit um das Kruzifix lässt sich nur mit Toleranz lösen: von Andersgläubigen zu Christen und von Christen zu Andersgläubigen.
Über diese Thesen, vorgetragen von alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay (Valbella) und Professor Michael Felder (Freiburg/CH), diskutierten beim 9. Katholischen Dialog vom 21. März 2011 im RomeroHaus Luzern über 30 Interessentinnen und Interessenten. Die Anwesenden waren sich darüber einig, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht davor schützt, mit anderen religiösen Auffassungen und Symbolen als jenen der eigenen Religion konfrontiert zu werden: Das gilt für nichtchristliche Kinder, die in der Schule in einem mit einer Darstellung des gekreuzigten Jesus geschmückten Zimmer unterrichtet werden, aber auch für die Öffentlichkeit, wo Minarette neben den Kirchtürmen in den Himmel ragen.
Bundesrichter Nay betonte in seinem Thesenreferat, die Anrufung Gottes in der schweizerischen Bundesverfassung sei richtig, denn «der säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht gewährleisten kann» (E.W. Böckenförde). Daher soll der Staat jene Werte hochhalten, die der Glaube einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vermittelt. So darf und soll auch die staatliche Schule in der Schweiz auf einer christlichen Grundlage stehen, und es darf in Schulräumen ein Kreuz angebracht werden. Dabei ist gebührend Rücksicht zu nehmen auf Schülerinnen und Schüler anderer Religionszugehörigkeit. So wird zum Beispiel ein weihnachtliches Krippenspiel aufgeführt, und unter Umständen wird auch das Ende des Ramadan gefeiert.
Für Professor Felder, Ordinarius für Pastoraltheologie, signalisiert das Kreuz im öffentlichen Raum, dass auch die säkulare Gesellschaft Religion und religiöse Menschen ernst nimmt und dass diese ihren Glauben öffentlich kundtun dürfen. Es darf nicht interpretiert werden als Siegeszeichen (In cruce salus) in der Manier der Kreuzzüge, denn «das Heil ist nicht im Kreuz, sondern im gekreuzigten Jesus Christus». Doch ist das Kreuz auch Fragezeichen angesichts gefährlicher Plausibilitäten des etablierten Politik-, Wirtschafts- und Kulturbetriebs und «stellt heilsame Fragen, die das menschliche Miteinander aller betreffen».
In der Diskussion unter Leitung von Dr. Erwin Koller und Dr. Toni Bernet-Strahm wurde daran erinnert, dass in katholischen Kirchen zu Beginn der Fastenzeit die Kreuzesdarstellungen verhüllt und am Karfreitag wieder feierlich enthüllt werden. Wo Streit um Kruzifixe in öffentlichen Räumen entsteht, könnte in Anlehnung an diesen liturgischen Brauch ein Moratorium eingehalten werden: Das Kreuz wird verhüllt, bis die öffentlich Diskussion zu einem Konsens führt, weil dessen religiöser Sinn wieder plausibel wird. – Ferner wurde darauf hingewiesen, dass das Kreuz geschichtlich gesehen nicht das erste christliche Symbol war, älter sind der Anker, der Fisch, der gute Hirt – religiöse Zeichen, die neu zu entdecken sind.