Worauf es ankommt – zehn Jahre nach dem Tod von Professor Herbert Haag
Herbert Haag löste 1997 mit seinem Buch: «Worauf es ankommt: Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?» einen kleinen Sturm aus. Vor allem Bischof Koch griff Herbert Haag in aller Öffentlichkeit an. Zehn Jahre nach seinem Tod (am 23. August 2001) griff der Katholische Dialog seine nach wie vor brisanten Thesen auf (vgl. im Buch S. 113f.).
Ergebnisse aus der Sicht von Herbert Haag
- In der katholischen Kirche gibt es zwei Stände, Klerus und Laien, mit unterschiedlichen Privilegien, Rechten und Pflichten. Diese Kirchenstruktur entspricht nicht dem, was Jesus getan und gelehrt hat. Sie hat sich folglich in der Geschichte der Kirche auch nicht zum Guten ausgewirkt.
- Das Zweite Vatikanische Konzil hat die tiefe Kluft zwischen Klerus und Laien zwar ansatzweise zu überbrücken versucht, sie aber nicht beseitigt. Auch in den Konzilsdokumenten erscheinen die Laien als die Gehilfen der Hierarchie, und sie haben keine Möglichkeit, die ihnen zustehenden Rechte wirksam einzufordern.
- Jesus lehnte das jüdische Priestertum und den blutigen Opferkult seiner Zeit ab. Er hatte zum Tempel und zu dem von Priestern vollzogenen Tempelgottesdienst ein gebrochenes Verhältnis. Er kündete den Untergang des Jerusalemer Tempels an und gab zu verstehen, dass er sich an dessen Stelle keinen anderen Tempel vorstellen konnte. Deshalb war es die jüdische Priesterschaft, die ihn ans Kreuz lieferte.
- Mit keinem Wort deutete Jesus an, dass er in seiner Jüngerschaft ein neues Priestertum und einen neuen Opferkult wollte. Er selbst war nicht Priester, auch keiner der „Zwölf“, keiner der Apostel, auch nicht Paulus. Ebenso wenig soll es nach den übrigen Schriften des Neuen Testaments ein neues Priestertum geben.
- Jesus wollte in seiner Jüngerschaft keine Klassen oder Stände. „Ihr alle seid Brüder“, lautet seine Weisung (Mt 23,8). Deshalb betrachteten und bezeichneten sich die frühen Christen als ‚Brüder‘ und ‚Schwestern‘.
- Im Widerspruch zu dieser Weisung Jesu bildete sich jedoch im 3.Jh. eine ‚Hierarchie‘, eine ‚heilige Obrigkeit‘ heraus. Das hatte die Scheidung der Gläubigen in zwei Stände, Klerus und Laien, ‚Geweihte‘ und ‚Volk‘, zur Folge. Die Hierarchie nahm für sich die Leitung der Gemeinden und vor allem die Liturgie in Anspruch. Sie weitete ihre Macht immer weiter aus. Die Laien wurden zur Dienstleistung und zum Gehorsam verpflichtet.
- Durch die weltweite Ausbreitung der Kirche wurden Ämter notwendig. Diese konnten, wie die Geschichte zeigt, die verschiedensten Formen annehmen. Alle Ämter, auch das des Bischofs, sind jedoch Einrichtungen der Kirche. Diese hat es deshalb in der Hand, sie beizubehalten, zu verändern oder abzuschaffen, wenn die Verhältnisse dies nahelegen.
- Seit dem 5. Jh. erfordert die Feier der Eucharistie die Mitwirkung eines sakramental geweihten Priesters. Seit dem 5. Jahrhundert bahnt sich auch die Vorstellung an, die Priesterweihe präge ihrem Empfänger ein unauslöschliches Merkmal auf. Diese von der mittelalterlichen Theologie weiter entwickelte Lehre wurde vom Konzil von Trient (16. Jh.) zur verbindlichen Glaubenslehre erhoben.
- Vierhundert Jahre lang waren es – nach unserem Sprachgebrauch – ‚Laien‘, die der Eucharistie vorstanden. Dies zeigt, dass ein sakramental geweihter Priester nicht erforderlich ist und weder biblisch noch dogmatisch begründet werden kann.
- Voraussetzung, der Eucharistie vorzustehen, sollte somit nicht eine Weihe, sondern ein Auftrag sein. Dieser kann einem Mann oder einer Frau, ob verheiratet oder unverheiratet, erteilt werden. Für beide, Mann und Frau, ist gleichermassen das volle kirchliche Amt zu fordern, das die Ermächtigung zur Eucharistie selbsttätig einschliesst.
Walter Kirchschläger, Prof. für Neues Testament an der Uni Luzern
Walter Kirchschläger ist Herbert-Haag-Preisträger 2011.
Er behandelte die Frage aus neutestamentlicher Sicht. Als er am 2. April 2011 in Wien den Herbert-Haag-Preis erhielt, legte er dar, wie die frühchristlichen Gemeinden nach dem Tod Jesu ihre Leitung bestellt haben, nachzulesen in: Erwin Koller, Hans Küng, Peter Križan (Hrsg.): Die verratene Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus. Exodus Luzern 2011, S. 227–37: Kirchenbild und Kirchenpraxis der Verborgenen Kirche – Eine neutestamentliche Relektüre.
Dietrich Wiederkehr, Prof. emer. der Uni Luzern
Dietrich Wiederkehr ist Herbert-Haag-Preisträger 2000.
Er analysierte die Frage nach der Zwei-Stände-Kirche aus dogmengeschichtlicher Perspektive; man vergleiche dazu sein Buch Für einen befreienden Glauben: drei Theologen als Wegbereiter (Hans Urs von Balthasar, Herbert Haag und Otto Karrer). Verlag Pro Libro Luzern 2006.
Interview: Tagung in Luzern: Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?
„Kirchliche Hierarchie droht an ihrem Starrsinn zu zerbrechen“
Josef Osterwalder / Luzern, 27.9.11 (Kipa)
Der Luzerner Theologe Herbert Haag löste 1997 einen kleinen Sturm aus mit seinem inzwischen vergriffenen Buch: „Worauf es ankommt: Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?“ Zehn Jahre nach seinem Tod am 23. August 2001 hat die Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche zusammen mit den Organisatoren der sogenannten Katholischen Dialoge eine nochmalige Lektüre des nach wie vor brisanten Buches veranstaltet. Die Tagung fand am 26. September im RomeroHaus in Luzern statt. Die Professoren Walter Kirchschläger und Dietrich Wiederkehr von der Universität Luzern hielten die Hauptreferate. Die Moderation besorgte Erwin Koller, Vizepräsident der Stiftung. Die Presseagentur Kipa hat bei ihm nachgefragt.
Frage: Warum engagiert sich die Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche gerade bezüglich der Zulassungsbedingungen zur Priesterweihe?
Erwin Koller: Die Freiheit des Christenmenschen hängt sehr eng damit zusammen, ob der Laie für voll genommen wird oder nur ein Anhängsel der Kleruskirche ist. Herbert Haag hat in seinem Buch über die Zwei-Stände Kirche dazu einen Schlüsselsatz formuliert: „Die Krise der Kirche wird so lange andauern, wie sich diese nicht entschliesst, sich eine neue Verfassung zu geben, eine Verfassung, in der es für zwei Stände – Priester und Laien, Geweihte und Nichtgeweihte – keinen Platz mehr gibt, sondern ein kirchlicher Auftrag ausreicht, um eine Gemeinde zu leiten und mit ihr Eucharistie zu halten. Und ein solcher Auftrag kann Männern und Frauen, Verheirateten und Unverheirateten zuteilwerden.“
Frage: Wie hängt das Thema der ‚Zwei-Stände-Kirche‘ mit der heutigen Situation zusammen?
Koller: Auf der vordergründigen Ebene damit, dass viele Pfarreien am Sonntag keine Eucharistie mehr feiern können, weil sie keinen geweihten Priester mehr haben. Und diese Situation wird sich in absehbarer Zeit noch wesentlich verschlimmern, wie die Prognose des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts für das Jahr 2029 zeigt.
Frage: Und hintergründig?
Koller: Hintergründig geht es um viel mehr: Die klerikale, patriarchale und zentralistische römische Kirche entspricht nicht dem Bild der Kirche, wie es das Zweite Vatikanische Konzil entworfen hat. Wie soll sich eine Kirche den Problemen der heutigen Welt stellen, wenn ein kindlicher Gehorsam noch immer die oberste Devise ist? Wenn also das Kirchenvolk sich möglichst keine eigenen Gedanken macht, geschweige denn sich kritisch mit der Kirchenleitung auseinandersetzt. Und wenn im Kader die Frauen zum Vorneherein keinen Platz haben. Wie soll man gute Leute verpflichten können, wenn das Leitungspersonal des Unternehmens autonomes Denken und Eigenverantwortung an der Pforte abgeben muss, weil im Zweifelsfall alle darauf schauen müssen, was denn der Vatikan zu einer Sache sagt?
Ich sage nicht, dass alle Leute in der katholischen Kirche so funktionieren. Gott sei Dank ist das nicht so. Doch wer selbstständig handelt, kann es oft nur mit einem enormen Aufwand an Widerstandsenergie und mit zahllosen Verkrümmungen tun. Und so bleibt dann die Sache selbst häufig auf der Strecke.
Frage: Wie sieht denn ein Kirchenverständnis aus, das sie Lage verbessern könnte?
Koller: Die Vision von Herbert Haag ist eigentlich ganz einfach: Die Kirche ist Volk Gottes, alle sind kraft ihrer Taufe gleichrangig und gleichwertig, ob Laie oder Klerus. Wer eine besondere Aufgabe hat, als Ältester (Presbyteros – Priester) in der Gemeinde oder als Vorsteher (Episkopos – Bischof) eines Sprengels, der hat ohne jeden Vorrang dem Volk Gottes zu dienen. Das ist nichts anderes als die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils im 2. Kapitel der Kirchenkonstitution.
Frage: Welches waren die Kernaussagen der Professoren Dietrich Wiederkehr und Walter Kirchschläger?
Koller: Beide Referate waren eindrücklich und auch überraschend und bewegend. Denn beide öffneten einen Horizont, der weit über die üblichen Fragen von Zölibat und Frauenordination hinaus reicht.
Frage: Was sagt der Dogmengeschichtler Wiederkehr zu den Thesen von Herbert Haag?
Koller: Er verglich den Reformstau in der Kirche mit einer Autopanne und stellte ihn in den Kontext der modernen Welt: Die Kirche steht vor den Herausforderungen der Aufklärung und der Moderne. Sie wird immer mehr bedrängt und auch bereichert von einer multireligiösen Kultur. Die Menschen verhalten sich in Sachen Religion immer individualistischer und darum eigensinniger und wählerischer. Und nicht zuletzt hat die Kirche auch gegenüber Gesellschaft und Politik von ihrer Reich-Gottes-Botschaft her ein prophetisches und anstössiges Wort auszurichten.
Darum könne die Kirche bei aller pastoralen Not niemals nur rein innerkirchlich agieren, sondern im Austausch mit all den genannten Kräften und Herausforderungen. Und dies gelte selbst bei der Eucharistiefeier: Auch diese sei ja einmal entwickelt worden aus der Auseinandersetzung mit griechischen, römischen und germanischen Ritualen. Es gehe folglich darum, die elementaren Selbstvollzüge der Kirche – Gemeinschaft, Liturgie, Zeugnis und Diakonie – wieder zu verflüssigen, von ihren zeitbedingten Korsetten zu befreien, die Fäden aufzudröseln und die Karten neu zu verteilen.
Weihen seien darum nicht als etwas Losgelöstes zu verstehen, sondern als verbindliche Beauftragungen für differenzierte Funktionen im Volk Gottes. Dementsprechend verlangten sie Begabung, Ausbildung, professionelle Kompetenz und klare Verantwortlichkeiten.
Frage: Und welche Sicht vertritt der Neutestamentlicher Walter Kirchschläger gegenüber der Konzeption von Herbert Haag?
Koller: Walter Kirchschläger zeichnete den neutestamentlichen Grund der Kirche und ihrer Ämter nach. Er bezeugte, dass Herbert Haag auf der Höhe der neutestamentlichen Forschung war, als er sein Buch 1997 schrieb. Jesus war nicht Priester und hat auch keine Priester und Bischöfe geweiht. Die zwölf Apostel waren ein prophetisches Zeichen für die Neubegründung der zwölf Stämme des Volkes Israel in der Nachfolgegemeinschaft Jesu. Sobald die Kirche den Rahmen des jüdischen Volkes sprengte, waren darum die Zwölf auch nicht mehr wichtig.
Der Apostel Judas wurde nach Pfingsten noch durch Matthias ersetzt, doch der hingerichtete Apostel Jakobus ein Dutzend Jahre später nicht mehr. Und ebenso oft wie die Zwölf wird in den Evangelien die Gruppe der Frauen um Maria von Magdala erwähnt.
Frage: Welche Rolle hatten die Frauen im Neuen Testament in den Eucharistiefeiern?
Koller: Dass Eucharistiefeiern von einer Frau geleitet wurden, wird im Neuen Testament nirgends explizit erwähnt. Es gibt allerdings auch nur eine einzige Stelle, wo ein Mann das Brotbrechen leitet. Nachweislich aber gibt es eine ganze Reihe von Frauen, die eine Hauskirche geleitet haben, und mit dieser Funktion war ohne Zweifel die Leitung der Eucharistie verbunden.
Frage: Und was sagt die Bibel zu den zwei Ständen in der Kirche?
Koller: Die Aufgliederung in zwei Stände kann sich nach Kirchschläger nicht auf die Intention Jesu oder auf einen Befund des Neuen Testamentes berufen. Kultpriesterliche Leitungsinstanzen sind in den Kirchen der neutestamentlichen Zeit nicht vorgesehen, und sie könnten sich ebenso wenig auf die Intention Jesu berufen.
Wohl aber hat Jesus von Nazaret seine Nachfolgegemeinschaft strukturiert. Strukturformen gehören darum zum Verständnis von Kirche. Und zur Vermeidung einer Gettoisierung einzelner Kirchen am Ort braucht es Dienste der Einheit, die auf verschiedenen Organisationsebenen von Kirche das gegenseitige Teilen und Mitteilen von Glauben und Kirchenpraxis gewährleisten.
Frage: Um was geht es eigentlich: Um Starrsinn der Hierarchie? Um ein Machtproblem? Oder einfach um eine Schwäche der Theologen?
Koller: Wenn man auf die Reaktionen der an der Tagung sehr zahlreich anwesenden Männer und Frauen der Kirche abstellt, werden Starrsinn und Machtgebaren als sehr zentrale Faktoren empfunden, welche die katholische Kirche lähmen. Wir haben eine kirchliche Hierarchie, die sich im zweiten Jahrtausend immer mehr verabsolutiert hat und heute droht, an ihrem eigenen Starrsinn zu zerbrechen.
Die Geschichte zeigt, dass es auch anders ging. Von der Bibel her und von der Vielfalt kirchlicher Modelle in den ersten Jahrhunderten gibt es einen grossen Entfaltungsraum, der gut katholisch ist, gerade weil er die gegenwärtige Engführung von Priestertum und Kirchenleitung noch nicht kennt. An der Schwäche der Theologie liegt es meines Erachtens nicht, wohl aber daran, dass man ihr noch zu oft das Maul verbietet.
Frage: Doch wenn die Zulassungsbedingungen geändert würden, ist vielleicht noch nicht allzu viel gewonnen. Was müsse noch hinzukommen?
Koller: Einverstanden. Auch Verheiratete und selbst Frauen könnten sich wieder als Sonderstand verstehen und klerikal agieren. Es war die einhellige Meinung, dass die Änderung der Zulassungsbedingung nur weiterhilft, wenn ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Kirche und Amt damit verbunden ist. Doch für diesen notwendigen Prozess hat das Zweite Vatikanische Konzil ja die Grundlagen gelegt.
Frage: Warum werden manche ältere Theologen so radikal?
Koller: Das hat verschiedene Gründe. Biographisch hängt es wohl zusammen mit allzu vielen Enttäuschungen in einer Kirche, die nicht nur als unbeweglich erlebt wurde und wird, sondern sich auch nach rückwärts entwickelt hat. Im Generationenzusammenhang kann man feststellen, dass zur Zeit des Konzils kritische Geister viele Motivationen bekamen, um in der Kirche mitzudenken und sich auch für ein kirchliches Amt zu verpflichten. Diese Motivationen sind beim heutigen Theologennachwuchs eindeutig nicht mehr gegeben.
Theologisch hat sich gerade in der Bibelwissenschaft sehr viel getan. Das Kirchen- und Amtsverständnis der Konzile von Trient und Vatikan I. wurde durch die Erforschungen der biblischen und frühchristlichen Kirchen massiv relativiert, wenn ihm nicht gar der Boden unter den Füssen weggezogen wurde.
Und schliesslich empfindet man es kirchenpolitisch als Affront, wenn reaktionären Kreisen und sogar Konzilsleugnern der Hof gemacht wird, während auf kritische Begehren des Kirchenvolkes und der Unteroffiziere in der Hierarchie nicht einmal gehört wird.
Frage: Mit welcher Epoche der Kirchengeschichte könnte man unsere Zeit vergleichen?
Koller: In gewisser Weise sind wir noch immer daran, die Konstantinische Wende des 4. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Damals hat sich die christliche Kirche mit den Machtstrukturen des römischen Reiches verbandelt und auch ihre Leitungsstrukturen, ja sogar ihr Verständnis von Priestertum, Sakramenten und Opfern dem Herrschaftssystem angepasst. Dass dies hochproblematisch war, wissen wir längst. Doch wer die Konsequenzen für eine zukunftsfähige Kirche zieht, gilt auch heute noch als Reformator.