Jede Gesellschaft hat ihre kollektiven Mythen oder Narrative, die ihre Entwicklung fördern oder behindern. Dazu gehören in Europa die mit den Ideen der Aufklärung verbundene Überwindung der feudalen Strukturen, die damit verbundene Begründung des Bürgertums, das Werte wie Individualismus und Freiheit hochhält, aber auch die Emanzipation von Arbeitern und Frauen mit Errungenschaften wie AHV und Frauenstimmrecht. Dazu gehört die Erfahrung der Befreiung Europas vom Faschismus durch die Alliierten, die dem American Way of Life Tür und Tor geöffnet hat und damit dem Marktkapitalismus mit all seinen Erscheinungsformen, aber auch die Visionen einer Europäischen Union und der weltweiten Gültigkeit und Durchsetzung von Menschenrechten. Dazu gehört auch das Trauma der Schoah, das seither wie ein Menetekel an der Wand steht. Dazu gehört der Fall der Mauer, der das Ende des Kommunismus als Alternative zum Kapitalismus symbolisiert, aber auch ein Europa ohne Schranken. Und dazu gehört der Schock von 9/11, der seither der Bewirtschaft eines «clash of civilization» dient, in dem der Islam das Andere ist.
Was taugen diese Mythen/Narrative? Wie verhält sich die Kirche mit ihren eigenen großen Mythen ihnen gegenüber? Welche Chancen nutzt sie, welche verpasst sie? Was trägt sie zur Zeitdiagnose bei? Kurz: Wie erfüllt sie ihr bei den Propheten gelerntes Handwerk? Auf diese und ähnliche Fragen gehen zwei erfahrene und engagierte ZeitanalytikerInnen ein und motivieren zum Dialog.
Dorothee Wilhelm
Seit 2013 als Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der ambulanten psychiatrischen Grundversorgung, zuvor beim Christlichen Friedensdienst, im Gleichstellungsbüro Zürich und als Dozentin für Sozialpädagogik tätig, studierte kath. Theologie, Pädagogik und Psychologie in Freiburt i.Br., Münster/Westfalen, Freiburg i. Ue. und Zürich.
1 Das Narrativ der Unübersichtlichkeit, welche Verantwortung zu kompliziert macht: Die Welt stellt sich unübersichtlicher denn je dar – es braucht mehr denn je Anhaltspunkte, um dennoch Verantwortung zu übernehmen. – Durch weltweite Vernetzung ist das Bewusstsein gewachsen, dass alles mit allem zusammenhängt, dass die Konsequenzen einer einzelnen Massnahme nicht absehbar sind. Umso schwieriger ist es, einen Ansatzpunkt für persönliche und kollektive Verantwortung zu finden. Eine Antwort darauf ist Populismus – Reduktion der Komplexität zugunsten einfach scheinender Lösungen, eine andere Antwort wäre Orientierung an dem, worauf es ankommt. (Wie lässt sich das unterscheiden?)
2 Das Narrativ des Individualismus als der Freiheit von Bindung, von Anforderungen: Einbettung in Gemeinschaft jenseits der romantischen Zweierbeziehung wird in diesem Narrativ als abzustreifende Fessel abgebildet. Besteht kein Bedürfnis nach Gemeinschaft? Oder ist die Angst vor Intimität grösser?
Die Konstruktion von «Wir» und «die Anderen» gehört in diesen Kontext. Was, wenn die anderen auch zum «Wir» gehören? Was, wenn sich erst nach und nach herausstellt, wer alles zum «Wir» gehört, wer sich noch alles zu Wort melden wird? Was, wenn auch die kommenden Generationen zu uns gehören?
Die jüdische Gemeinschaft fragt nach den «Nächsten», die Kirche teilt das Konzept mit ihr und verfügt damit über ein substantielles Angebot zur Transzendierung des Individualismus. Die Reihe der «Fremden, Witwen und Waisen» qualifiziert es inhaltlich. In diese Transzendierung gehört Gal 3,28: …nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Ansässige und Flüchtlinge…
3 Das Narrativ der notwendigen Ökonomisierung aller Lebensbereiche: Dass gespart werden muss, besonders im gesundheitlichen und sozialen Bereich, wird als selbstevident gehandelt. Pflegefachpersonen werden in der Schweiz ausgezeichnet ausgebildet, aber im Arbeitsalltag fehlt ihnen die Zeit, mit ihren PatientInnen so umzugehen, wie es fachlich gut oder auch nur angemessen wäre.
4 Das Narrativ des notwendigen Wachstums – es herrscht ungebrochen, obgleich bekannt ist, dass die Ressourcen begrenzt sind, dass wir 3 Planeten bräuchten, um den westlichen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Suffizienz, Nachhaltigkeit wäre eine neue Vision, die noch zu füllen ist – hier hätten wir einiges zu bieten, angefangen beider Goldenen Regel, über die «Zehn Worte» bis zu den «Drei evangelischen Räten». Askese und Demut wären weitere Elemente, die Suffizienz als Vision füllen könnten.
Auch Fortschritt wäre kritisch in der Perspektive des kommenden Reiches Gottes zu betrachten: Offiziell gilt Fortschrittspessimismus, ein Konsens des «Es geht bergab», individuell können wir uns z.B. ein Leben ohne Handy gar nicht mehr vorstellen. Wie wäre es, dem Kommen des «Lebens in Fülle» und dem Wandel der Herzen zu vertrauen, gleichzeitig unsere Verantwortung darin entschieden wahrzunehmen?
Arnd Bünker
Seit 2009 Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen und geschäftsführender Sekretär der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz, hat in Münster/Westfalen und Belo Horizonte/Brasilien katholische Theologie und Sozialpädagogik studiert. Er doziert Pastoralsoziologie an der Universität Fribourg.
These 1: Die Kirche hat ein tief gestörtes Verhältnis zur europäischen Moderne. Diese Beziehungsstörung steht einer differenzierten Diagnose der Zeit/der Gesellschaft(en) Europas entgegen.
Die Ablehnung des europäischen Projektes des Moderne, dessen Ambivalenzen und Widersprüche, dessen Tragiken gar nicht verhehlt werden sollen, prägt die katholische Kirche seit der Französischen Revolution. In unserer Zeit stand Johannes Paul II. nach einer Phase der kirchlichen „Entspannungspolitik“ (Zweites Vatikanum) für eine zunehmend defizitorientierte Sichtweise auf die europäische Moderne. Die Vergangenheit wurde verklärt und die gesellschaftlichen Dynamiken der Gegenwart als Abfall vom Ursprung und als schuldbehaftete Entfremdung von Gott und der Kirche gewertet. Weniger Diagnose als Vorwurf verbirgt sich seit dem hinter den entsprechenden zeitdiagnostischen Schlagworten: Individualismus, Konsumismus, Materialismus, Hedonismus, Relativismus etc.
Benedikt XVI. setzte diese Grundhaltung mit der „Entweltlichungsforderung“ fort. Papst Franziskus bedient die gleichen Wortspiele – vielleicht eher kapitalismuskritisch als modernitätskritisch gewendet – aber ebenfalls ohne präzise Bestimmung und vor allem ohne genügende Analyse. Kampfbegriffe, „Kampfmythen“, ersetzen die Zeitdiagnose.
These 2: Die „Zeitdiagnosen“, die in kirchlichen Texten formuliert werden, sind Ausdruck eines unverarbeiteten Machtverlustes der Kirche. Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie werden darin als Machtverlust gesehen. Die wirklichen Nöte der Menschen geraten aus dem Blick. Das Böse unserer Zeit bleibt unentdeckt. Dabei müsste es der kirchlichen Zeitdiagnose um Heil und Unheil, Gut und Böse von heute gehen.
In der katholischen Kirche sind die falschen Eisen heiss. Die analytisch unzureichenden und zumeist individualethisch aufgeladenen negativ bewerteten „Zeitgeistphänomene“ helfen der Kirche nicht, handlungsfähig zu werden. Zugleich erscheint die Auseinandersetzung mit Fragen, die mit himmelschreiender Ungerechtigkeit, mit Ohnmacht, Ausgrenzung, Leiden, Armut und Krieg – mit dem Bösen – zu tun haben, wie eine periphere Beschäftigung der Kirche; so als ginge es hier nicht um das religiöse Kerngeschäft. Cui bono?
These 3: Erst eine überzeugende Zeitdiagnose wird die katholische Soziallehre wiederbeleben und sie zu einer relevanten gesellschaftlichen Stimme werden lassen.
Die katholische Soziallehre ist gegenwärtig kaum vernehmbar, sie zeigt Innovationspotenzial höchstens weit unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und hat fast alle ihre Multiplikatoren und Akteure verloren.
In einer Gesellschaft, die gleichzeitig multireligiöser, multispiritueller und säkularer wird, in der Pluralität alle Lebens- und Denkbereiche durchzieht, kann auch eine kirchliche Soziallehre nur im Plural gedacht werden. Vor allem aber muss sie neue Wege finden, um ihr Proprium, ihren religiösen Bezug, zur Geltung zu bringen.
Medienmitteilung:Die kirchliche Soziallehre als prophetische Stimme wiederbeleben
Paul Jeannerat / 19. Oktober 2015
Nach einer Phase der Entspannung während des 2. Vatikanischen Konzils ist die katholische Kirche in ein tief gestörtes Verhältnis zur europäischen Moderne zurückgefallen. Offizielle Texte der Päpste beschreiben das Heute mit negativen Vokabeln, was Ausdruck eines unverarbeiteten Machtverlusts ist. Nur eine überzeugende Zeitdiagnose wird die Kirche mit ihrer Soziallehre wiederbeleben und zu einer relevanten gesellschaftlichen Stimme werden lassen. In dieser Feststellung gipfelte der 36. Katholische Dialog am 19. Oktober 2015 im Romerohaus Luzern.
Die Katholischen Dialoge wenden sich im Bildungsjahr 2015-2016 wichtigen gesellschaftlichen Brennpunkten von heute zu und formulieren dazu von der evangelischen Botschaft her prophetische Einwürfe. In den Blick genommen werden Beginn und Ende des menschlichen Lebens, Gebrauch und Missbrauch religiöser Gewalt und die Ohnmacht der Marktwirtschaft zur Ernährung der Menschheit.
Der erste Katholische Dialog in der Reihe „Prophetische Einwürfe zu gesellschaftlichen Brennpunkten“ versuchte, eine Diagnose der heutigen Zeit zu formulieren und dazu die Rolle der Kirchen zu besprechen. Zur Einführung stellten zwei ausgewiesene Fachleute Thesen auf: die Psychotherapeutin und Sozialpädagogin Dorothee Wilhelm (Zürich) sowie der Theologe und Pastoralsoziologe Arnd Bünker (St. Gallen).
Zeitdiagnose und Kirchen
Dorothee Wilhelm fasste ihre Zeitdiagnose in vier „Narrative“: das Narrativ der Unübersichtlichkeit, welche Verantwortung kompliziert macht, das Narrativ des Individualismus als Freiheit von Bindung, das Narrativ der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und das Narrativ des Wachstums und des Fortschritts. Diesen Grundbefindlichkeiten und Zwängen des heutigen Menschen müssten die Kirchen ihre Frohe Botschaft gegenüberstellen. Der Unübersichtlichkeit würde eine Orientierung an dem, „worauf es wirklich ankommt“ antworten, dem Individualismus das Konzept der Nächstenliebe, der Ökonomisierung aller Lebensbereiche die Gnade als unverdiente Gabe und dem Fetisch des materiellen Wachstums würde die Goldene Regel, die Zehn Gebote und die Evangelischen Räte gegenüberstehen.
Positive Sicht der Moderne
Arnd Bünker diagnostizierte ein tief gestörtes Verhältnis der Kirche zur europäischen Moderne, was eine differenzierte Diagnose der heutigen Gesellschaften massiv erschwert. Papst Johannes Paul II. stand für eine defizitorientierte Sichtweise auf die europäische Moderne, Benedikt XVI. forderte „Entweltlichung“ und Franziskus bedient sich zur Zeitdiagnose alter „Kampfmythen“. In kirchlichen Texten wird Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie des heutigen Menschen oft negativ konnotiert, was dem Eingeständnis des eigenen Machtverlustes gleich kommt.
Darum sind in der katholischen Kirche „die falschen Eisen heiss“, sagte Arnd Bünker und wies darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit Fragen, die mit himmelschreiender Ungerechtigkeit, mit Ohnmacht, Ausgrenzung, Leiden Armut und Krieg zu tun haben, „wie eine periphere Beschäftigung der Kirche erscheint, als ginge es hier nicht um das religiöse Kerngeschäft“. Und Bünker forderte, dass die kirchliche Soziallehre neue Wege finden müsse, „um ihr Proprium, ihren religiösen Bezug, zur Geltung zu bringen“.
Katholisch-offenes Gespräch
Das Gespräch unter den etwa 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde lebendig und engagiert geführt, war aber geprägt von Bedauern über den Ausgang der eidgenössischen Wahlen am Vortag. Nicht das Ergebnis sei zu kritisieren, wurde betont, sondern der Grund, der zu diesem Ergebnis geführt hat: Angst vor dem Fremden und sogar Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder wiesen die Votanten auf die Not der Flüchtlinge hin, die aus Konfliktregionen nach Europa fliehen.
Als Nachfolger des Fernsehjournalisten Erwin Koller, der die Dialoge bisher grösstenteils moderierte, leitete zum ersten Mal der Theologe Thomas Staubli, Dozent für Altes Testament an der Universität Freiburg, den Dialog.