In diesem Dialog wird der Horizont gleich in mehrfacher Hinsicht geweitet: Erstens konfessionell durch eine protestantische Theologin und eine muslimische Sozialwissenschaftlerin. Zweitens durch einen feministischen Diskurs, der nach postpatriarchalen Formen des Miteinanders sucht. Drittens durch die zu selten erörterte Frage, was die weltweit dominierende Säkularität für die zwei größten Weltreligionen bedeutet.
Beide Referentinnen freuen sich an der Vielfalt der Religionen und wissen um die Kreativität, die Frömmigkeit freisetzen kann. Ina Prätorius setzt sich seit Jahrzehnten intensiv mit den Herausforderungen der säkularen Herrschaft auseinander, die dabei ist, unseren Planeten zu zersetzen. Den technischen Machbarkeitswahn konfrontiert sie mit unseren Abhängigkeiten und plädiert für deren Bejahung und Kultivierung.
Die Türkin Emel Topcu argumentiert aus einem Kontext, in dem Laizität und Religiosität, Nationalismus und Multiethnizität, Europa und Orient seit Jahrzehnten unversöhnlich miteinander ringen streng theozentrisch: Freiheit von weltlicher Autorität erfährt nur, wer seine Abhängigkeit von Gott anerkennt. Aber wie geht das im 21. Jahrhundert?
Thesen von Emil Topcu
Religiös sein heißt: Abhängig von Allah und frei von weltlichen Autoritäten sein.
1.
Meiner Meinung nach braucht jeder Mensch, ob gläubig oder ungläubig, ein Konstrukt, woran er festhalten kann. Dieses Konstrukt kann eine Person, die Karriere, Geld oder etwas Spirituelles, wie eben Allah sein. Das Gefühl, an etwas festhalten zu müssen, bringt natürlich auch Abhängigkeit mit sich. Wenn wir an etwas Irdischem oder Materiellem festhalten, nötigen wir uns dazu, alles zu tun, um dieses Etwas nicht zu verlieren. Wenn es aber Allah ist, woran wir festhalten, kann dieses Gefühl uns von jeglicher irdischer Autorität befreien.
Qur’an, Sure 10, Vers 108: Sprich: „O ihr Menschen, nunmehr kam zu euch die Wahrheit von eurem Herrn. Und wer da geleitet ist, der ist zu seinem eigenen Besten geleitet; und wer irregeht, der geht nur zu seinem eigenen Schaden irre. Und ich bin nicht euer Hüter.“
2.
Wenn wir nur an Allah festhalten und nur seine Autorität annehmen, dann handeln wir im Einklang zu unserer wahren menschlichen Natur (FİTRA). Allah hat uns erschaffen, und weiß am besten, was uns glücklich macht. Diese Erkenntnis und die Anerkennung der eigenen Abhängigkeit von Allah befreien uns von allen anderen Abhängigkeiten irdischer Natur und wir erleben eine Freiheit in Verbindung mit der Abhängigkeit.
Sure 10, Vers 109: Und folge dem, was dir geoffenbart ward; und harre aus, bis Allah richtet; und Er ist der beste Richter.
3.
Um uns diese Wahrheit zu offenbaren, hat Allah uns über die Geschichte hinweg viele Propheten geschickt. Ob wir diese anerkennen, überlässt Er unserem freien Willen. Wenn wir diese Freiheit aber nutzen, um irdische Entscheidungen zu treffen, machen wir uns wiederum selber abhängig.
Sure 18, Vers 29: Und sprich: „Die Wahrheit ist von eurem Herrn; und wer will, der glaube, und wer nicht will, der glaube nicht … “
Sure 18, Vers 30: Siehe, diejenigen, welche glauben und das Gute tun, – siehe, nicht lassen Wir verlorengehen den Lohn jener, deren Werke gut sind.
Emel Topcu, Dr., studierte in der Türkei Mathematik und Politologie und promovierte in Public Administration. Sie war Stipendiatin an Universitäten in Indien und den USA. Zwischen 1979 und 1999 unterrichtete sie an Sekundarschulen und Gymnasien in der Türkei. Sie lebte fünfzehn Jahre in Deutschland und ist in verschiedenen, zum Teil international tätigen Integrations- und Dialog-Projekten (u.a. EPIL) engagiert. Heute ist sie Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Ankara mit den Schwerpunkten Migration, Gender und Multikulturalismus.
Hinweis: Emel Topcu trat in einer sehr informativen Sternstunde zur Situation in der Türkei im vergangenen November auf, die online zugänglich ist: http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-religion/gefaehrliche-annaeherung-religion-und-politik-in-der-tuerkei
Thesen von Ina Prätorius
Religiös sein heißt: Abhängigkeit bejahen und kultivieren
- Religiöse Menschen, gleich welcher Zugehörigkeit, haben nie bestritten, dass wir alle vom ersten bis zum letzten Tag unserer Existenz abhängig sind. Das Wissen um unser aller Angewiesensein bedeutet in einer säkularisierten Welt, die tendenziell das „autonome Individuum“ glorifiziert, eine Irritation. Gleichzeitig ist das Bejahen und Reflektieren von Abhängigkeit(en) und die Arbeit an gerechten und lebensförderlich gestalteten Abhängigkeitsverhältnissen eine Notwendigkeit, gerade heute, da die Menschheit sich anschickt, die Natur – das, wovon wir alle gleichermaßen abhängen, da wir Teil davon sind – zu zerstören. Eine wichtige, womöglich die wichtigste Aufgabe religiös gebliebener Menschen in der (Post-)Moderne besteht also darin, das Bewusstsein menschlicher Abhängigkeit(en) wach zu halten, in die Öffentlichkeit (zurück) zu tragen und verantwortlich zu kultivieren.
- Die tatsächlich existierenden religiösen Traditionen stehen der konstruktiven Erfüllung dieser Aufgabe allerdings oft im Wege. Denn die überlieferten religiösen Redeformen, Rituale und sozialen Arrangements vermitteln nicht (nur) das heilsame/heilige Bewusstsein, dass wir alle von einem GROSSEN UNVERFÜGBAREN UMUNSHERUM und VONEINANDER abhängen, sondern spiegeln bestimmte historisch gewachsene Abhängigkeitsverhältnisse: Wenn wir ChristInnen betend vom Alltagsgeschäft Abstand nehmen, sagen wir „Herr unser Herrscher“, „Herr erbarme dich“ oder „Vater unser“. Wir versichern uns also nicht nur unseres Angewiesenseins im Sinne der Geborgenheit in einem guten, großzügigen, nährenden ICH-BIN-DA (Ex 3,14) und DAZWISCHEN, sondern bestätigen gleichzeitig immer wieder eine hierarchische, patriarchale Ordnung, deren Erhaltung sich niemand wünschen kann und die durch die Moderne mit ihrer Grundkategorie der gleichen und allgemeinen Menschenwürde glücklicherweise (im Prinzip) aufgehoben ist.
- Die zentralen Fragen, über die religiös gebliebene Menschen sich inner- und interreligiös und mit der säkularisierten Umgebung verständigen sollten, heißen also: Wovon (genau?) sind wir abhängig? Wie können wir das überlieferte heilsam-heilige Wissen der Religionen um die conditio humana so transformieren, dass es nicht mehr patriarchal-hierarchische Verhältnisse bestätigt, sondern in einer tendenziell (selbst)zerstörerisch gewordenen Säkularität einen Konsens über unser aller Bezogenheit fördert und zur Gestaltung weltfreundlicher Bezogenheitsverhältnisse beiträgt? Könnte eine Rückbesinnung auf unser aller Geburtlichkeit (Natur/Natalität/Nativität) ein sinnvoller Ansatzpunkt für diese notwenige postsäkulare Transformation sein oder werden?
Zum Weiterlesen:
- https://inabea.wordpress.com/2016/03/15/natality-as-a-new-anthropological-paradigm-reflections-of-a-protestant-christian/
- http://www.feinschwarz.net/religioes-sein-abhaengigkeiten-kultivieren/
Ina Praetorius, Dr. theol., Germanistin und evangelische Theologin, lebt seit vielen Jahren als freie Autorin und Referentin in Wattwil/Toggenburg. Neueste Publikationen: Erbarmen. Unterwegs mit einem biblischen Wort, Gütersloh 2014; Wirtschaft ist Care oder: die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Berlin 2015. www.inapraetorius.ch
Beitrag von Oliver Schneider in der Luzerner Zeitung.
Medienbericht von Paul Jeannerat
Luzern, 24. April 2017
Für die beiden grossen Weltreligionen heisst religiös sein: die eigene Abhängigkeit bejahen und kultivieren. Im Islam geht es um die Abhängigkeit von ALLAH, im Christentum um die Abhängigkeit von einem GROSSEN UNVERFÜGBAREN UMUNSHERUM und VONEINANDER. In der säkularisierten (Post-)Moderne besteht die wichtigste Aufgabe religiöser Menschen darin, das Bewusstsein menschlicher Abhängigkeit wach zu halten. Diese Thesen wurden am 46. Dialog des Forums für offene Katholizität (FOK) aufgestellt und diskutiert.
Im Bildungsjahr 2016/17 stellen sich die Dialoge des Forums für offene Katholizität dem Thema „Säkularismus als Herausforderung“. Beim 46. Dialog wurde der Horizont gleich in mehrfacher Hinsicht geweitet: Es referierten die muslimische Sozialwissenschafterin Emel Topcu und die evangelische Theologin Ina Praetorius, beide argumentierten nach einem feministischen Diskurs und beide erörteten die Frage, was die weltweit dominierende Säkularität für die zwei grossen Weltreligionen bedeutet.
Emel Topcu, Professorin für Migration, Gender und Multikulturalismus an der Universität Ankara (Türkei), gab einen Einblick in ihre persönliche Entwicklung als Muslimin und referierte aus ihren Erfahrungen bei internationalen Intergrationsprojekten. Ihrer Meinung nach braucht jeder Mensch „ein Konstrukt, woran er festhalten kann“. Für Ungläubige kann dies eine Person, die Karriere oder Geld sein, für Gläubige ist dies Allah. Die Erkenntnis, dass wir von Allah erschaffen sind, und die Anerkennung der damit gegebenen Abhängigkeit von Allah befreit uns von allen anderen Abhängigkeiten irdischer Art und lässt uns eine Freiheit in Verbindung mit der Abhängigkeit erleben. Seit ihrem 19. Lebensjahr trägt Emel Topcu den Schleier als Ausdruck ihrer religiösen Abhängigkeit von Allah und ihrer Freiheit von irdischen Autoritäten.
Ina Praetorius, Germanistin und evangelische Theologin, stellte – zum allgemeinen Erstaunen – dieselbe These auf wie Emel Topcu: Der Mensch ist religiös, wenn er anerkennt, dass er „vom ersten bis zum letzten Tag seiner Existenz abhängig ist“. Die wichtigste Aufgabe religiöser Menschen besteht darin, das Bewusstsein menschlicher Abhängigkeit wach zu halten und verantwortlich zu kultivieren. Die zentralen Fragen, über die religiöse Menschen sich verständigen sollten, heissen darum: Wovon sind wir abhängig? Wie können wir das überlieferte heilsam-heilige Wissen der Religionen um die conditio humana „in einer tendenziell (selbst-)zerstörerisch gewordenen Sakularität“ so transformieren, dass es „einen Konsens über unser aller Bezogenheit fördert und zur Gestaltung weltfreundlicher Bezogenseinsverhältnisse beiträgt“? Und sie entfaltete ihre in mehreren Publikationen vertretene These, dass eine Rückbesinnung auf unser aller Geburtlichkeit ein sinnvoller Ansatzpunkt für die notwendige postsäkulare Transformation ist.
Das Gespräch – Mittelpunkt der Katholischen Dialoge – stand unter Leitung von Thomas Staubli, Dozent für alttestamentliche Theologie an der Universität Freiburg/Schweiz. Engagiert diskutierten die etwa 30 Anwesenden u.a. über den Begriff Abhängigkeit, umfasst er doch eine negative Konnotation: Wäre nicht Bezogenheit oder Verbundenheit der geeignetere Begriff? Oder ist Abhängigkeit gerade das richtige Wort, weil „unser Verhältnis zum guten, grosszügigen, nährenden ICH-BIN-DA und DAZWISCHEN“ tatsächlich volle Ur-Abhängigkeit beinhaltet?
http://inarah.de/
Spannendes zum Thema Aufklärung und Islam